"Von mir sagen die Leute, der Fluch Kains läge auf mir," schreibt der vierunzwanzigjährige Goethe an seinen Freund Kestner (ai) , und ein andermal drückt er Dasselbe in althellenischem Bilde aus, indem er sich zu des Tantalus (bi) Geschlecht gerechet. "Goethe ist nicht glücklich und kann schwerlich glücklich werden" schrieb 1779 Freundin Johanna Fahlmer (ci) an Fritz Jacobi (di). "Er ist ein sehr unglüclicher Mensch" urteilte 1791 der deutsch-dänische Bischof Münter (ei) über den zweiundvierzigjährigen goethe, "muß beständig mit sich selbst in Unfrieden leben." Später sagten scharfe Beobachter: Goethe sehe aus wie Einer, der großen Kummer in sich verarbeitet habe. Aber allmählich entstand der Glaube, daß Goethe ein Schoßkind des Glückes gewesen sei: ihm habe das Leben so heiter gelacht wie nur irgend einem Sterblichen. Den gewöhnlichen Kampf um's Dasein, der die Meisten von uns zeitlebens beschäftigt, hat Goethe allerdings nicht kämpfen müssen; ernste Sorgen um Einkommen und Auskommen hat er sich nie zu machen brauchen; zu hohem Ansehen und Rang kam er schon in recht jungen Jahren; Freunde und Freundinnen erwarb sich der schöne und begabte Mann ohne viel Mühe. Aber tausend Quellen von Leid und Not fließen (ai) Johann Georg Christian Kestner (1741-1800), kurfürstlich hannoverscher Legationssekretär in Wetzlar, dann Archivar in Hannover; im Sommer 1772 arbeitete Goethe als Praktikant am Reichskammergericht in Wetzlar, wo er Charlotte Buff kennenlernte, die Braut von Kestner. Die widerspruchsvolle Liebe zu ihr, das daraus erwachsende schmerzliche Dreiecksverhältnis inspirierten ihn u. a. zu seinem ersten Roman, "Die Leiden des jungen Werthers". |
auch noch auf solchen Bevorzugten zu, und es muß ein tapferrer Schwimmer sein, der ihre Fluten teilen und das Ufer erreichen will, zu dem er strebt. Auch Goethe hatte tausendfach zu ringen: um körperliche und geistige Gesundheit, um häusliches Wohlbefinden, um ein gutes Verhältnis zu den Menschen, die ihn nah und fern umgaben. Bei seiner großen Weichheit und Empfindlichkeit trafen ihn die Krankheits- und Todesfälle und sonstige Nöte in seiner Freundschaft außerordentlich schwer. Sein ehemaliger Hausgenosse Heinrich Meyer (ai) wußte von den starken Ausbrüchen des Schmerzes zu erzählen, wußte von den sehr starken Ausbrüchen des Schmerzes zu erzählen, denen sich Goethe beim Tode seiner Kinde hingab: daß er sich laut weinend auf der Erde gewälzt habe. Wir wissen, daß Niemand wagte, ihm Schillers Tod zu sagen; ebenso war es, als Ernestine Vulpius (bi), eine Schwester seiner Frau, der Schwindsucht (ci) erlegen war. Als ihm dann der einzige übrig gebliebene Sohn auch noch in's dunkle Land vorausging, seufzte der Greis: "Es scheint, als wenn das Schicksal die Überzeugung habe, man sei nicht aus Nerven, Venen, Aterien und anderen daher abgeleiteten Organen, sondern aus Draht zusammengeflochten." So empfand er also das allgemeine menschliche Schicksal tief. Welche besonderen Leider aber der geniale, nach höchsten Erkenntnissen strebende Forscher trägt, hat uns Goethe im 'Faust' offenbart; an eben solche Leiden dachte der genannte Bischof Münter, als er von Goethes Unglück sprach: "Alles arbeitet in seinem Kopf und drängt in zur Tätigkeit, und doch will er sein Amt nicht abwarten . . . Hat Botanik, Anatomie, Kunst studiert, (ai) Johann Heinrich Meyer (1760-1832), Schweizer Maler und Kunstschriftsteller, Mitarbeiter und Freund Goethes, seit 1806 Direktor des Freien Zeicheninstituts in Weimar. Goethe hatte Johann Heinrich Meyer bereits 1786 während seiner Italienischen Reise in Rom kennengelernt. Seit 1791 lebte er in Weimar und wurde Goethes wichtigster Berater und Gutachter in Kunstfragen. Meyer war an Schillers "Horen" und in besonderem Maße an Goethes Kunstzeitschriften, den "Propyläen" und "Kunst und Alterthum", beteiligt. |
Alles wieder liegen lassen und arbeitet nun über die Theorie der Farben." Und Schopenhauer belehrt uns:
Aus innerster Seele hat Goethe diesen Kampf und diese Einsamkeit des genialen oder auch nur des eigenartigen Menschen in seinen Dichtungen manches Mal dargestellt. Was hat nicht Tasso zu tragen, weil sich die Welt in ihm anders spiegelt als in regelrechten Hofleuten und fürstlichen Personen! Die Kühnsten der goethischen Helden ballen in ihrer Verzweiflung sogar gegen den Himmel die Faust. "Ich dich ehren? Wofür? Hast du die Schmerzen gelindert je des Beladenen? Hast du die Tränen gestillet je des Geängsteten?" So ruft Prometheus, und nicht weniger bitter ist das Mitleid, mit dem Mephistopeles die Jubelhymnen der Erzengel in seiner Weise abschließt: "Von Stern und Welten weiß ich nichts zu sagen; ich sehe nur, wie sich |
die Menschen plagen . . . Die Menschen dauern mich in ihren Jammertagen!" Werther erschießt sich, Faust führt die Giftschale an den Mund, und ihr Dichter bekennt:
So schrieb er 1812, als sich Zelters Stiefsohn das Leben genommen hatte, und vier Jahre später, als er den 'Werther' selber wieder gelesen:
* * * So wenig wertvoll also erschien auch diesem Bevorzugten das Leben. Das Verbleiben darin konnte er nur durch einen geheimnisvollen Lebensdrang erklären, der unser Sonderwesen erst völlig ausgebildet und danach völlig verbraucht sehen will, ehe er die Auflösung des Leibes, seines Werkzeuges, zuläßt.
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Daß Goethe stets bemüht war, sein Inneres vor fremden Anforderungen nach Möglichkeit zu beschützen oder davon wieder freizumachen, und wie ernst und treu er sich um die höchste Ausbildung seiner Persönlichkeit bemühte, haben wir in manchen Einzelheiten gesehen; einen deutlichsten Ausdruck fand dies Bestreben um die Mitte seines Lebens durch die Flucht nach Italien. Alles Befreien unserer Persönlichkeit, alle Entfaltung unserer besonderen Kräfte, alles Offenbaren unserer Begabung durch Taten oder Werke, alles Herausstellen von Leistungen, die unser Gepräge haben, stimmt uns nun aber glücklich.
So hatte Goethe bei allen Leiden, die ihn als eine eigenartige und zugleich sehr zarte Persönlichkeit trafen, in seiner ziemlich freien Stellung und in der dadurch gegebenen Möglichkeit freier, persönlicher Arbeit eine unversiegliche Quelle des Glücks. Besonders mußte ihn auch sein beständiges Lernen erheitern, denn das Lernen ist, was im Zeitalter der Zwangsschulen nicht Jedermann weiß, eine Ursache des Wohlbefindens und muß es sein, da es eine Ausdehnung und Bereicherung unserer Persönlichkeit, ein inneres Besitzergreifen der Welt bedeutet. "Das einzige reine Glück", lehrt Schopenhauer, |
Der geniale Mensch ist dem Kinde verwandt - Goethe ist bei Lebzeiten oft ein großes Kind genannt worden - und bedarf nicht erst der Mahnung: "so ihr nicht werdet wie die Kinder . . ." "Der gewöhnliche Mensch" sagt wiederum Schopenhauer,
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Schopenhauer hatte bei diesen Ausführungen Goethe, den er persönlich kannte, im Auge. Und der Kanzler v. Müller, der die Erlebnisse des alten Goethe am nächsten sah, sagt geradezu, daß er jedes Unglück durch Erkennen zu überwinden trachtete.
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Im Jahre 1817 rühmte Knebel seinen alten Freund gegen Frau v. Schiller mit diesen Worten:
Damals war Goethe durch den Tod seiner Frau einsamer geworden und hatte auch noch die etwas gewaltsame Trennung vom Theater zu verwinden. Nach dem allerletzten Schlage, der ihn traf, nach Augusts Tode oder Untergange, schrieb Goethe selber:
Damit meinte er kein untätiges Betrachten. Vielmehr war angestrengtes Arbeiten ein Hausmittel Goethes, um über schmerzliche Erlebnisse hinwegzukommen. Besonders nach dem Tode eines Nahestehenden fragte er, "was uns zu erhalten und zu leisten übrig bleibt." "Das Außenbleiben meines Sohnes" schreibt er an Zelter, als August an der Pyramide des Cestius (ai) begraben war,
(ai) Cestiuspyramide, Grabmal des römischen Prätors Gaius Cestius Epulo (vor 12 v.Chr.), nahe der Porta San Paolo in Rom. |
Aber auch in gewöhnlichen Zeiten nutzte Goethe das Arbeiten und Lernen als Mittel zum Wohlbefinden aus. "Vielleicht waren die Marienbader Zeiten (die Sommer 1820 - 22) die glücklichsten des goethischen Alters" urteilt ein guter Kenner (1), und bezeichnend ist, daß dieser Kenner in der begründenden Fortsetzung lauter Lerngelegenheiten aufführt.
Man sieht Goethe in seinen Eigentümlichkeiten nie deutlicher, als wenn man seinen Bericht über die (1) August Sauer, Goethe und Österreich II. |
Kampagne in Frankreich liest. Der König von Preußen, der Herzog von Braunschweig, sein eigener Herzog, alle die Offiziere und Soldaten um ihn herum kämpfen mit den Franzosen und mit den noch gefährlicheren Unbilden eines unaufhörlichen Regenwetters. Goethe befindet sich mitten in diesem Kampf und Erleiden, aber sein Geist richtet sich auf naturwissenschaftliche Erkenntnis. Eine weiße Topfscherbe, die in eine Quelle geworfen war und nun aus der Tiefe herauf die schönsten Farben zeigt, beschäftigt ihn tagelang, wochenlang. Als Verdun bombardiert wird, geht er abends mit einem Fürsten von Reuß (ai) hinter den Weinbergsmauern, die sie vor den Kugeln der Belagerten schützen, auf und ab; der Fürst fragt nach des Dichters letzten Arbeiten, und Goethe spricht stundenlang von der weißen Scherbe und von seinen sonstigen optischen Studien. Sie reden die Nacht hindurch, denn der Fürst wird von Goethes Ausführungen ergriffen; sie wärmen sich bei einbrechendem Morgen an einem Biwakfeuer der Österreicher und reden weiter über die Wunder Natur. Und als Goethe vierzehn Tage später immer noch mit den Kriegsgenossen dem ärgsten Regen und tausend Unbequemlichkeiten ausgesetzt war, dachte er auch immer noch an seine Quelle und die Blau- und Violettfarben der Scherbe.
(ai) Reuß, Adelsgeschlecht; zwei Fürstentümer und Bundesstaaten des Deutschen Reiches im Osten Thüringens wurden nach ihm benannt. |
quemen Versuchen zu erheben. Da diktierte ich an Vogel (des Herzogs Schreiber) in's gebrochene Konzept und zeichnete nachher die Figuren daneben. Diese Papiere besitze ich noch mit allen Merkmalen des Regenwetters. * * * Alle Übel haben ein anderes Gesicht, je nachdem wir uns zu Zeit und Ewigkeit, zu Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verhalten. Goethe rät uns Zweierlei, was sich nicht sogleich zusammenreimen will: Lebe im Augenblick! Lebe in der Ewigkeit! eine Brücke zwischen Begriffen schlägt er, wenn er Eckermann zuruft: "Halten Sie immer an der Gegenwart fest! Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit." Räumlich drückte er denselben Gedanken gern durch lateinische Sprichwörter aus: "Hic est aus nusquam quod querismus", "Hic Rhodus, hic salta!" Verdeutscht und verzeitlich im 'Wilhelm Meister': "Hier oder nirgens ist Amerika!" Er warnt also vor jeder Beschädigung und Geringschätzung der Gegenwart durch die Vergangenheit oder durch die Zukunft und will Ähnliches sagen wie Christi Mahnungen: "Laßt die Toten ihre Toten begraben! Sorget nicht für den anderen Morgen!" Weil die Menschen die Gegenwart nicht zu würdigen, zu beleben wüßten, schmachteten sie so nach einer besseren Zukunft, kokettierten sie so mit der Vergangenheit, sagte er zum Kanzler, als von romantischen und sentimentalen Gedichten, von Proben der vom verhaßten "Lazarettpoesie" die Rede |
war. Demselben Freunde riet er, sich nicht durch Reue und schmerzliche Rückblicke die Stunde zu verderben:
Ein Mann nach Goethes Sinn mußte nach jedem Unfall sofort wieder auf den Beinen stehen. Karl August war nach seinem Sinn:
Mit Vergnügen erzählte er auch vom Salinendirektor Glenk von Stotternheim, dem in seinem Schacht ein sehr kostspieliges Mißgeschick passiert war, der jedoch in seinem Bericht keinen andern Gedanken hinzufügte als: "ich habe eine Erfahrung gemacht, die mir nicht verloren sein soll." "Das nenne ich doch noch einen Menschen, an dem man Freude hat!" rief Goethe aus. Sich selber schildert Goethe als einen Gegenwartsmenschen etwas anderer Art. Er mochte sich seine eigene Vergangenheit nicht wieder lebendig machen (außer wo sie schon so weit von ihm entfernt lag, daß er sie kühl-geschichtlich, als Etwas, was ihn wenig anging, betrachten konnte). Er mochte seine Dichtungen nicht gern wieder lesen; selbst seine 'Iphigenie' von 1786 war ihm 1793 lästig, als die Freunde in Düssel- (ai) Rekrimination, Gegenklage, Gegenbeschuldigung. |
dorf sie hören wollten. Er wünschte nur Das vorzutragen, was ihm jetzt gerade gemäß war: Naturwissenschaftliches am liebsten. Er erzählt, daß er duch diese Eigenheit in Jacobis Hause, wo man in ihm den früheren Freund wieder genießen wollte, in ein Mißverhältnis kam; denn er konnte und wollte nicht "ganz der Alte" sein und machte sich um seine günstige Erscheinung und Wirkung keine Gedanken.
Hier erscheint uns sein Im-Augenblick-Leben als etwas Unfreiwilliges; aber auch der Ausruf: "Ich will nicht hoffen und fürchten wie ein gemeiner Philister" kennzeichnet ihn. In den schwersten Zeiten machte er es sich zur Regel, nicht vor und zurück, sondern auf den Tag zu schauen, nur dem gegenwärtigen Tage zu |
leben. Und auf die Frage: "Was ist deine Pflicht?" antwortet er: "Die Forderung des Tages." * * * Aber wir wissen schon, daß er nicht mit kleinen Tagesdingen den Tag ausfüllte, nicht mit Tageblattlesen, mit Tagesklatsch-Anhören, mit Teilnahme an politischem Tagestreit. Als im Juli 1830 in Paris die Revolution ausgebrochen war, sagte Goethe zu Soret: "Nun, was denken Sie von dieser großen Geschichte? Alles steht in Brand! Es verläuft nicht mehr bei geschlossenen Türen! Der Vulkan kommt zum Ausbruch!" Soret stimmte ein: "Die Lage ist entsetzlich! Eine so erbärmliche Familie, die sich auf ein ebenso erbärmliches Ministerium stützt, gibt wenig Hoffnung. Man wird sie schließlich fortjagen." Da guckt Goethe den Gast ganz verwundert an und ruft aus: "Aber ich rede ja nicht von dieser Gesellschaft! Was liegt mir denn daran! Es handelt sich um den großen Streitz zwischen Cuvier (ai) und Geoffroi (bi)." Darauf also hatte Goethe während der Juli-Revolution geachtet, und er hatte recht: denn in diesem Streit handelte es sich wirklich um etwas Großes: um die Entwicklungslehre, und Das war Etwas, woran Goethe viele Jahre mitgearbeitet hatte, was ihn wirklich mehr anging als das jeweilige Bild auf dem politischen Theater der Pariser. Wissenschaft und Kunst reichten ihm dauernde Güter; lesend und beschauend konnte er sich mit den besten Vorfahren, schreibend mit den besten künftigen unterhalten. (ai) Georges Baron de Cuvier, 1769 - 1832, französischer Naturforscher; teilte das Tierreich in vier Typen: Wirbel-, Weich-, Glieder- und Strahltiere; Mitbegründer der wissenschaftlichen Paläontologie. Nach seiner "Katastrophentheorie" ist das Leben periodisch durch Katastrophen vernichtet und wieder erschaffen worden. |
So schrieb der Vierzigjährige, und dieser Wunsch lebte immer in ihm. Es war nicht Absicht und ist doch kein Zufall, daß die Dichtung, die ihn durch sein ganzes Leben hindurch beschäftigte, der 'Faust', die Geschichte von drei Jahrtausenden umfaßt: von der Eroberung Trojas bis zu Byrons Teilnahme am Befreiungskriege der Neugriechen. Auch wenn er sich, wie so oft und gern, in den Sammlungen seines Hausmuseums bewegte, ließ er sich von ältesten und neuesten Zeiten erfreuen, belehren, unterhalten. Wir wissen, wie viel Liebe er den Dichtern der Vergangenheit: Molière, Shakespeare, Calderon (bi) und besonders den Griechen zuwandte. Bald machte er sich im alten germanischen Norden heimisch, bald in Arabien, dann unter Neugriechen oder Serben, dann unter Chinesen. Wenn ihn vielleicht einer der Neuesten zu entthronen meinte, achtete er gar nicht darauf und steckte vielleicht tief in den persischen Dichtern. "Die Perser", so sprach er dann zu einem Hausfreunde, "hatten in fünf Jahrhunderten nur sieben Dichter, die sie gelten ließen, und unter den verworfenen waren mehrere Kanaillen (ci), die besser als ich waren." Seinen geologischen Studien dankte er es, daß er noch mehr über die Jahrtausende zu blicken sich ge- (ai) Baruch de Spinoza, niederländischer Philosoph, 1632 - 1677; stammte aus einer von Portugal nach Holland eingewanderten marranischen Judenfamilie; Spinoza erhielt in Amsterdam die biblisch-talmudische Ausbildung der jüdischen Gemeinde, betrieb daneben aber schon früh das Studium der Scholastik, der alten Sprachen, der zeitgenössischen Naturwissenschaften und Mathematik sowie der philosophischen Schriften von R.Descartes. 1656 wurde er wegen religiöser Dogmenkritik mit dem Bannfluch der jüdischen Gemeinde belegt. Sein philosophisches Hauptwerk "Ethica, ordine geometrico demonstrata" (Ethik, nach geometrischer Methode dargestellt) erschien postum 1677; Spinoza entwickelte seinen pantheistischen Substanzmonismus, der schon in dem nicht veröffentlichten Jugendwerk "Tractatus de Deo et homine" angelegt war. Danach ist Gott die einzige, unteilbare, unendliche Substanz (Monismus); ihr kommen unendlich viele Attribute zu, von denen aber nur Denken und Ausdehnung erkennbar sind. Gott und die Natur sind ein und dasselbe, da alles, was ist, aus der einen Substanz notwendig folgt. Die Selbsterkenntnis des Geistes vollzieht sich dergestalt, dass der Geist die Affektionen seines ihm in der Form der Idee entsprechenden Körpers aufnimmt. Die körperliche Welt erkennt der Geist nur auf inadäquate Weise. Adäquate Erkenntnis liefert nur der Verstand, einmal vermittels Schließens (rationale Erkenntnis), zum anderen vermittels unmittelbarer Anschauung (intuitive Erkenntnis). Das Fundament der Tugend ist das Streben nach Selbsterhaltung. Dieses ist nur dadurch möglich, dass sich der Mensch der Herrschaft der passiven Affekte entzieht. Hierzu muss er sie klar erkennen und der Herrschaft der tätigen Affekte unterstellen. Höchstes Gut und höchste Tugend ist "die geistige Liebe zu Gott", zugleich für den Menschen die höchste Seligkeit. Sie genießt der Mensch durch den vom Tode nicht berührbaren Teil seiner selbst, durch seine Vernunft. |
wöhnte. Es scheint, daß namentlich auf Bergeshöhen auch sein geistiges Auge den weiten Ausschau liebte. So stand er einmal mit Eckermann am Abhange des Ettersberges (ai) und blickte auf die blauen Berge in der Ferne. Der Gefährte brachte ihm Muscheln und zerbrochene Ammonshörner (bi) vom Straßenrande. "Inmmer die alte Geschichte!" sagte Goethe, "immer der alte Meeresboden! Wenn man von dieser Höhe auf Weimar hinabblickt und auf die mancherlei Dörfer umher, so kommt es einem vor wie ein Wunder, wenn man sich sagt, daß es eine Zeit gegeben, wo in dem weiten Tale dort unten die Walfische ihr Spiel getrieben. Und doch ist es so, wenigstens höchstwahrscheinlich. Die Möwe aber, die damals über dem Meere flog, das diesen Berg bedeckte, hat sicher nicht daran gedacht, daß wir beide heute hier fahren würden. Und wer weiß, ob nach vielen Jahrtausenden die Möwe nicht abermals über diesen Berg fliegt!" Auch als er an seinem letzten Geburtstage auf dem Kickelhahn (ci) war, glitten seine Gedanken von seiner Lebenszeit aus bald über zu den großen Zeitspannen der Erdgeschichte. Zuerst dachte er an die in jugendlichem Wagemut im nahen Ilmenau begonnenen Bergwerksbauten, die später aufgegeben werden mußten.
(ai) Ettersberg, Muschelkalkrücken nördlich von Weimar, Thüringen, 478 m über dem Meeresspiegel. |
* * * Wer so in größten Zeitverhältnissen lebt, gleicht dem sehr reichen Manne, der noch nicht zu jammern braucht, wenn ihm ein Haus abbrennt oder ein Schiff untergeht. Aber Goethe schalt überall auf das Jammern und Klagen, weil es das Unglück verschlimmert. Jedes Übel ist größer oder kleiner, je nachdem wir uns ihm zuwenden oder abwenden und von unserm Innern aus Trübes oder Heiteres dazu tun. Goethe war für Schweigen, so lange es irgend anging.
so spricht der Graf in der 'Natürlichen Tochter', und der König antwortet ihm:
Als nach der Schlacht bei Jena und der Plünderung von Weimar tausend Leute auch ihm ihre persönlichen Nöte und Verluste gern in höchsten Tönen schildern (ai) Braunstein, Bezeichnung für eine Gruppe von Manganoxiden und -hydroxiden vorwiegend sedimentärer Entstehung. |
wollten, fanden sie bei Goethe nicht immer das gewünschte Echo. "Daß jeder Narr jetzt seine eigene Geschichte hat, Das eben ist keine der geringsten Plagen der jetzigen bösen Zeit." Aber viel ärgerlicher war er, wenn Andere das wirkliche Übel noch durch Hinzudichten eingebildeter Übel vermehrten und von einem Zusammenbruch alter deutscher Herrlichkeit sprachen, die gar nicht vorhanden gewesen war. Goethes einsichtigste Freunde verstanden sein Schweigen nach großen Verlusten, z. B. nach dem Tode Schillers. Der Dresdner Kunstkenner Johann Gottlob v. Quandt (ai), der das Unglück hatte, beide Beine zu brechen, rühmt geradezu, daß Goethe in seinen Briefen an ihn in "richtigem Takt" dieses Unglücks nicht erwähnte:
Wo des Unglücks oder des Verdrießlichen durchaus gedacht werden mußte, suchte Goethe nach den mildesten Ausdrücken, dämpfte alles Schmerzhafte, hob (ai) Johann Gottlob von Quandt (1787 - 1859), seine Kindheit verlebte er auf dem Gut Wachau in der Nähe von Leipzig , wo er durch sein Elternhaus eine vielseitige Ausbildung erhielt. Seine Liebe zur Bildenden Kunst wurde besonders durch die Mutter gefördert. 1811 unternahm er seine erste Italienreise und schloss die Ausbildung zum Kunsthistoriker ab. 1815 gelang es Quandt, verschollen geglaubte Bilder aus der Nicolaikirche aufzuspüren. Darunter befanden sich auch Gemälde von Lucas Cranach d. Ä. 1819 trat er eine Reise nach Rom an, wo sein Haus zum Anziehungspunkt vieler Künstler wurde. 1820 wurde Quandt durch den sächsischen König in den Adelsstand versetzt. Seit 1828 stand Quandt in enger Brieffreundschaft mit Johann Wolfgang v. Goethe, bei dem er nach seinem Romaufenthalt auch zu Gast war. |
das Erfreuliche hervor. Wir haben allemal, wenn wir von Not und Tod sprechen, einen großen Vorrat von Haupt- und Eigenschaftswörtern zur Auswahl, und an denen, die wir wählen, zeigen wir, wie es mit unserer Philosophie und unserem Herzen bestellt ist. Goethe war fast ein Schönfärber, wenn er über vergangene, unabänderliche Dinge berichten mußte (1); Niemand sonst wird dem Herzog Karl August die Zerstörungen in Weimar nach der Schlacht bei Jena so gering dargestellt haben wie er; Niemand auch wird dem Fürsten den Glauben, daß sich alles Beschädigte bald besser wiederherstellen lasse, so sehr gestärkt haben. - - * * * Dieses Streben, in großen Zeiträumen zu leben und gegenwärtiges oder jüngstvergangenes Übel zu vergessen oder doch eher zu verkleinern als zu vergrößern, hat eine gewisse Beharrlichkeit und Tapferkeit zur Folge. Unruhig-ängstliche Zeiten können nur vergehen, wenn möglichst viele Menschen ihre gewöhnlichen Geschäfte so besorgen, wie wenn nichts passiert wäre, (1) Gestehen wir zu: er war es völlig. Man vergleiche zum Beispiel, wie er 1821 in den Annalen über 1811 den bösen Streit mit dem Ehepaar v. Arnim darstellt, die er doch im folgenden Jahre als "Tollhäusler" bezeichnet hat, die er froh sei, losgeworden zu sein. Es lohnt sich auch, die 'Kampagne in Frankreich' mit dem Bericht zu vergleichen, den der gemeine Soldat Laukhardt über dieselben Dinge gegeben hat. (C.F. Laukhardts Leben und Schicksale, Dritter Teil, Leipzig 1796). |
"Ruhe und nachgiebige Beharrlichkeit" pries Goethe seiner Gattin als das Einzige an, was leidlich durch's Leben helfe. Und seinem unglücklichen Sohne schrieb der Achtzigjährige nach Italien: "Wer sich in die Welt fügt, wird finden, daß sie sich gern in ihn finden mag; wer dieses nicht empfindet oder lernt, wird nie zu irgend einer Zufriedenheit gelangen." Ausdauer an dem Orte, wo sie einmal seien, rät er auch den Freunden an. "Ihr werdet vordringen durch's Bleiben" ruft er Kestnern zu. "Wer seinen Zustand verändert, verliert immer die Reise- und Einrichtekosten, moralisch und ökonomisch, und setzt sich zurück." Und ebenso an Herder:
* * * Schließlich fand Goethe im Glauben eine starke Hülfe zum Leben, zum Ertragen der tausendfältigen Not und Pein. Er war kein Rechtgläubiger im Sinne der einen oder andern Kirche aber er glaubte an die |
Fortdauer der Persönlichkeiten nach der Auflösung ihrer irdischen Leiber, besonders an ein weiteres Wachsen und Wirken der hier schon als stark bewährten Geister, und er glaubte an Gott. Gott glauben heißt, in's Tätige übersetzt, sich in Gottes Willen ergeben, das Weltregiment ihm anvertrauen, sich selber in seine Hände legen. In jüngeren Jahren nannte Goethe die höchste Macht wohl auch "Schicksal" oder "Natur." "Du hast uns lieb" redete er das Schicksal an: "Du hast für uns das rechte Maß getroffen." So glaubt er mit siebenundzwanzig Jahren, und mit dreiunddreißig rühmt er ebenso die "Natur." "Wir sind von ihr umgeben und umschlungen, unvermögend, aus ihr herauszutreten . . . Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten. Sie wird ihr Werk nicht hassen." (1) Und oft gesteht er später in Prosa und Versen das gleiche Gottvertrauen. Sogar im fröhlichen Liede, das er in den Kriegsstürmen von 1813 an der Wirtstafel zu Oschatz (ai) niederschreibt:
(1) Das Fragment über die Natur, das in Goethes Werke immer wieder aufgenommen wird, ist nicht von Goethe, sondern von Georg Christoph Tobler aus Zürich verfaßt, der 1781 viel mit Goethe umging. Vielleicht hat Goethe ein wenig daran gearbeitet, ehe er es in's 'Tiefurter Journal' gab. Hier dürfen wir es als etwas Goethisches erwähnen, da es, wie er selber später bestätigte, seine damalige Denkart ausdrückt. |
Und lebt nicht dieser Glaube auch in seinen gößten Werken, in der 'Iphigenie', im 'Wilhelm Meister' im 'Faust'?
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