Einmal angenommen, die Menschheit müsste ihre gesammelten Moralvorstellungen auf einen einzigen Grundsatz reduzieren, und diese Regel sollte gleichermaßen vor Mord und Totschlag, Diebstahl und Betrug, Unterdrückung und Rache schützen - wie würde ein solches Fundamentalprinzip lauten? Der Darwinist Ernst Haeckel bezeichnete es 1899 in seinem Buch "Welträthsel" als "das edelste Prinzip der allgemeinen Menschenliebe" - und tatsächlich bildet es unter dem Namen "Goldene Regel" seit mehr als 3000 Jahren die ethische Gesamtbotschaft aller Weltreligionen und Kulturen. Dieses Sittengesetz lautet in seiner volkstümlichen Variante: "Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!"
(Wolfgang Michal in: GEO Wissen Nr. 35, März 2005, Gruner + Jahr, Hamburg)
Die Goldene Regel ist Bestandteil der Ethik zahlreicher Religionen und Philosophen:
Konfuzianismus
Tue anderen nicht, was du nicht möchtest, das sie dir tun. (Analekte 15, 23)
Ein Wort, dass als Verhaltensregel für das Leben gelten kann, ist Gegenseitigkeit. Bürde anderen nicht auf, was du selbst nicht erstrebst. (Lehre vom mittleren Weg 13, 3)
Taoismus
Betrachte den Gewinn deines Nachbarn als deinen Gewinn und seinen Verlust als deinen Verlust. (T'ai-shang Kang-ying P'ien)
Buddhismus
Verletze nicht andere auf Wegen, die Dir selbst als verletzend erscheinen. (Udana-Varga 5, 18)
Ein Zustand, der nicht angenehm oder erfreulich für mich ist, soll es auch nicht für ihn sein; und ein Zustand, der nicht angenehm oder erfreulich für mich ist, wie kann ich ihn einem anderen zumuten? (Samyutta Nikaya V, 353.35 - 354.2)
Wer sich zum Vorbild gemacht hat, soll weder schlagen noch Anlaß zu Schlägen geben. (Dhammapada, 10, 129-130)
Hinduismus und Brahmanismus
Man soll sich nicht auf eine Weise gegen andere betragen, die einem selbst zuwider ist. Dies ist der Kern aller Moral. Alles andere entspringt selbstsüchtiger Begierde. (Mahabharata, Anusasana Parva 113, 8; Mencius VII, A, 4)
Dies ist die Summe aller Pflicht: Tue anderen nichts, das dir Schmerz verursachte, würde es dir getan. (Mahabharata V, 1517)
Man soll sich nicht auf eine Weise gegen andere betragen, die einem selbst zuwider ist. Dies ist der Kern aller Moral. Alles andere entspringt selbstsüchtiger Begierde. (Mahabharata, 114, 8)
Jainismus
Daher übt er (der Weise) keine Gewalt gegen andere, noch heißt er andere so tun. (Acarangasutra 5, 101-102)
Gleichgültig gegenüber weltlichen Dingen sollte der Mensch wandeln und alle Geschöpfe in der Welt behandeln, wie er selbst behandelt sein möchte. (Sutrakritanga I. 11.33)
Zoroastrismus
Was alles dir zuwider ist, das tue auch nicht anderen an. (Shayast-na-Shayast 13, 29)
Tut keinem etwas an, was für Euch selbst nicht gut erschienen wäre. (Shayast-na-shayast, XIII, 29)
... dass die (menschliche) Natur nur gut ist, wenn sie nicht anderen antut, was ihr nicht selbst bekommt. (Dadistan-i-Dinik 94, 5)
Judentum
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. (Die Bibel, Altes Testament, Buch Levitikus 19, 18)
Was du nicht leiden magst, das tue niemandem an. (Die Bibel, Altes Testament, Buch Tobit 4, 15)
Was dir selbst verhasst ist, das tue nicht deinem Nächsten an. Dies ist das Gesetz, alles andere ist Kommentar. (Talmud, Shabbat 31a)
Christentum
Alles, was ihr für euch von den Menschen erwartet, das tut ihnen auch." (Die Bibel, Neues Testament, Matthäus 7, 12)
Seid zu den Leuten genauso, wie ihr auch von ihnen behandelt werden wollt. (Die Bibel, Neues Testament, Lukas 6, 31)
Was der Mensch sät, das wird er ernten. (Die Bibel, Neues Testament, Galater, 6,7b)
Islam
Niemand von Euch ist ein Gläubiger, bevor er nicht für seinen Bruder wünscht, was er für sich selbst begehrt. (Yahia bin Sharaful-Deen An-Nawawi: 40 Hadithe (13))
Bahá'í
Bürdet keiner Seele eine Last auf, die ihr selber nicht tragen wollt, und wünscht niemandem, was ihr euch selbst nicht wünscht. (Baha'u'llah)
Klassisches Griechenland
Was immer du deinem Nächsten verübelst, das tue ihm nicht selbst. (Pittakos von Mytilene, einer der griechischen Sieben Weisen)
Antwort auf die Frage, was denn die gerechteste Lebensführung sei: "Wenn wir selbst nicht tun, was wir anderen übel nehmen." (Thales von Milet)
Tue anderen nicht an, was dich ärgern würde, wenn andere es dir täten." (Sokrates)
Soll ich mich andern gegenüber nicht so verhalten, wie ich möchte, dass sie sich mir gegenüber verhalten? (Platon)
Was du selbst zu erleiden vermeidest, suche nicht anderen anzutun. (Epiktet)
Die weite Verbreitung der Goldenen Regel, lateinisch regula aurea als Lebensweisheit beweist, daß sie auf volkstümliche Weise das ideale zwischenmenschliche Miteinander beschreibt. Sie verbietet oder gebietet nichts Bestimmtes, sondern sie stellt nur eine Situation vor Augen, die ich anders bewerten würde, wenn ich selbst in diese Lage käme. Mit anderen Worten: die Regel lässt mich für mein Handeln reflektiv erkennend meine Wertetafel überprüfen. Die Gleichheit im Zumuten und Erwarten ist also der Kern der in ihr enthaltenen Ethik.
Die Goldene Regel steht im Zentrum der Ethik des Naturrechts. Arthur Kaufmann arbeitet in seiner Schrift "Theorie der Gerechtigkeit - Problemgeschichtliche Betrachtungen" heraus:
Methodisch ging man bei der Findung des "richtigen Rechts" ganz schulgerecht so vor, daß man nach der "Natur" des Menschen fragte, selbstverständlich nach der empirischen, nicht nach der metaphysischen Natur, danach, wie der Mensch rein tatsächlich ist, um dann von hier aus logisch schlußfolgernd die "natürlichen" Rechte und Pflichten des Menschen abzuleiten. Derartige Rechte und Pflichten, so wähnte man, müßten wie die gleichbleibende Vernunft des Menschen universalen Charakter haben, also für alle Zeiten und alle Menschen gültig sein. Es kann nicht verwundern, daß fast alle Versuche, ein solches absolutes Naturrecht zu begründen, bei der Herausarbeitung einiger weniger, sehr abstrakter Grundprinzipien des Rechts steckengeblieben sind: etwa der Gebote, niemandem Schaden zuzufügen (die "negative" goldene Regel), Verträge zu halten, das Eigentum zu achten, den andern als gleichberechtigt zu behandeln (also das "suum cuique"), den Bedürftigen zu unterstützen (die "positive" goldene Regel) usw.
Geschichtlich findet sich die Goldene Regel in der Entwicklung des Naturrechts
Kant formulierte "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne". Den kategorischen Imperativ als Prinzip der Ethik entwickelte Kant 1785 in der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten". Im kategorischen Imperativ ist u. a. als Element der Goldenen Regel das Prinzip der Gleichheit enthalten, denn es soll Grundlage eines allgemeinen Gesetzes sein, das für alle gilt. Allerdings ist der kategorische Imperativ in seiner Formulierung nicht so eingängig wie die Goldene Regel.
Die Goldene Regel in ihrer ursprünglichen Formulierung hat allerdings eine Schwäche: Die subjektive Sicht des Handelnden wird zum alleinigen Maßstab gemacht. Der individuelle Wunsch bzw. das Empfinden des Handelnden muss aber nicht unbedingt auch von seinem Nächsten erwünscht sein, und umgekehrt. Sowohl die positiven als auch die negativen Formulierungen der Regel eignen sich also nicht als absolute Bewertungsrichtlinie für die Handlungen des Einzelnen. Zur Ergänzung der Bewertungsrichtlinie sind daher weitere ethische Prinzipien in die Betrachtung einzubeziehen. Bei den zitierten Beispielen aus den Bereichen Religion und Philosophie ist die Goldene Regel jeweils im Kontext mit der jeweiligen Ethik zu sehen.
In die Terminologie und Ethik der Freimaurerei übersetzt, könnte die Goldene Regel wie folgt formuliert werden:
Erkenne, vervollkommne und forme dich selbst,
um dich symbolisch als Stein in den Bau
des Tempels der Humanität einzufügen.
Hintergrund dieser Formulierung ist, daß die Freimaurer fiktiv am Bau des "Tempels der Humanität", dem salomonischen Tempelbau, arbeiten. Die Steine dafür sind die Menschen, die sich für diesen Zweck selbst ausformen. Menschenliebe, Toleranz und Brüderlichkeit übernehmen dabei die Funktion des fest verbindenden Mörtels zwischen den Steinen. Das Prinzip der wechselweisen Gleichheit innerhalb der Goldenen Regel wird hier über das geschlossene Gefüge der Steine symbolisiert, denn nur in der geometrischen Harmonie der Einzelsteine miteinander kann ein Mauerwerk seinen Zusammenhalt finden.