internetloge.de - internetloge.org - Hamburg, Deutschland -
Freimaurerei, Freimaurerlogen, Freimaurer





Lebensweisheit

von
Arthur Schopenhauer



Le bonheur n'est pas chose aisée: il est tres
difficile de e Trouver en nous, et impossible de
le trouver ailleu rs.

     - Chamfort -

(Das Glück ist keine leichte Angelegenheit.
Es ist sehr schwer, es in uns, und unmöglich,
es anderswo zu finden.)



A. Allgemeine Regeln

  1. Als die oberste Regel aller Lebensweisheit sehe ich einen Satz an, den Aristoteles beiläufig ausgesprochen hat, in der Nikmachäischen Ethik (VII, 12): ό φρονιμος το αλυπον διωϰει, ου το ήδυ (Quod dolore vacat, non quod suave est, persequitur vir prudens. Besser noch deutsch ließe sich dieser Satz etwa so wiedergeben: "Nicht dem Vergnügen, der Schmerzlosigkeit geht der Vernünftige nach"; oder "Der Vernünftige geht auf Schmerzlosigkeit, nicht auf Genuß aus"). Die Wahrheit desselben beruht darauf, daß aller Genuß und alles Glück negativer, hingegen der Schmerz positiver Natur ist. Die Ausführung und Begrpndung dieses letzteren Satzes findet man in der "Welt als Wille und Vorst.", Bd. 1, § 58. Doch will ich denselben hier noch an einer täglich zu beobachtenden Tatsache erläutern. Wenn der ganze Leib gesund und heil ist, bis auf irgendeine kleine, wunde, oder sonst schmerzende Stelle; so tritt jene Gesundheit des Ganzen weiter nicht ins Bewußtsein, sondern die Aufmerksamkeit ist beständig auf den Schmerz der verletzten Stelle gerichtet und das Behagen der gesamten Lebensempfindung ist aufgehoben. - Ebenso, wen alle unsere Angelegenheiten nach unserem Sinne gehen, bis auf eine, die unsrer Absicht zuwiderläuft, so kommt diese, auch wenn sie von geringer Bedeutung ist, uns immer wieder in den Kopf: wir denken häufig an sie und wenig an alle jene andern wichtigeren Dinge, die nach unserm Sinne gehn. In beiden Fällen nun ist das Beeinträchtigte der Wille, einmal, wie er sich im Organismus, das andere, wie er sich im Streben des Menschen objektiviert, und in beiden sehn wir, daß seine Befriedigung immer nur negativ wirkt und daher gar nicht direkt empfunden wird, sondern höchstens auf dem Wege der Reflexion in Bewußtsein kommt. Hingegen ist seine Hemmung das Positive und daher sich selbst ankündigende. Jeder Genuß besteht bloß in der Aufhebung dieser Hemmung, in der Befreiung davon, ist mithin von kurzer Dauer

    Hierauf nun also beruht die oben belobte Aristotelische Regel, welche uns anweist, unser Augenmerk nicht auf die Genüsse und Annehmlichkeiten des Lebens zu richten, sondern darauf, daß wir den zahllosen Uebeln desselben, soweit es möglich ist, entgehn. Wäre dieser Weg nicht der richtige; so müßte auch Voltaires Ausspruch, le bonheur n'est qu'un rève, et la douleur est réelle, so falsch sein, wie er in der Tat wahr ist. Dennoch soll auch der, welcher das Resultat seines Lebens, in eudämonologischer Rücksicht, ziehn will, die Rechnung nicht nach den Freuden, die er genossen, sondern nach den Uebeln, denen er entgangen ist, aufstellen. Ja, die Eudämonologie hat mit der Belehrung anzuheben, daß ihr Name selbst eine Euphemismus ist, und daß unter "glücklich leben" nur zu verstehn ist "weniger unglücklich", also erträglich leben. Allerdings ist das Leben nicht eigentlich da, um genossen, sondern um überstanden, abgetan zu werden; dies bezeichnen auch manche Ausdrücke, wie degere vitam, vita defungi, das italienische si scampa cosi, das deutsche, "man muß suchen, durchzukommen", "er wird schon durch die Welt kommen", u. dgl. m. Ja, es ist ein Trost im Alter, daß man die Arbeit des Lebens hinter sich hat. Demnach nun hat das glücklichste Los der, welcher sein Leben ohne übergroße Schmerzen, sowohl geistige, als körperliche, hinbringt; nicht aber der, dem die lebhaftesten Freuden, oder die größten Genüsse zuteil geworden. Wer nach diesen letzteren das Glück eines Lebenslaufes bemessen will, hat einen falschen Maßstab ergriffen. Denn die Genüsse sind und bleiben negativ: daß sie beglücken, ist ein Wahn, den der Neid, zu seiner eigenen Strafe, hegt. Die Schmerzen hingegen werden positiv empfunden: daher ist ihre Abwesenheit der Maßstab des Lebensglückes. Kommt zu einem schmerzlosen Zustand noch die Abwesenheit der Langenweile; so ist das irdische Glück im wesentlichen erreicht: denn das übrige ist Schimäre. Hieraus nun folgt, daß man nie Genüsse durch Schmerzen, ja, auch nur durch die Gefahr derselben, erkaufen soll; weil man sonst ein Negatives und daher Schimärisches mit einem Positiven und Realen bezahlt. Hingegen bleibt man im Gewinn, wenn man Genüsse opfert, um Schmerzen zu entgehn. In beiden Fällen ist es gleichgültig, ob die Schmerzen den Genüssen nachfolgen, oder vorhergehn. Es ist wirklich die größte Verkehrtheit, diesen Schauplatz des Jammers in einen Lustort verwandeln zu wollen und, statt der möglichsten Schmerzlosigkeit, Genüsse und Freuden sich zum Ziele zu stecken; wie doch so viele tun. Viel weniger irrt, wer, mit zu finsterm Blicke, diese Welt als eine Hölle ansieht und demnach nur darauf bedacht ist, sich in derselben eine feuerfeste Stube zu verschaffen. Der Tor läuft den Genüssen des Lebens nach und sieht sich betrogen: der Weise vermeidet die Uebel. Sollte ihm jeoch auch dieses mißglücken; so ist es dann die Schuld des Geschicks, nicht die seiner Torheit. Soweit es ihm aber glückt, ist er nicht betrogen: denn die Uebel, denen er aus dem Wege ging, sind höchst real. Selbst wenn er etwa ihnen zu wert aus dem Wege gegangen sein sollte und Genüsse unnötigerweise geopfert hätte; so ist eigentlich doch nichts verloren: denn alle Genüsse sind schmärisch, und über die Versäumnis derselben zu trauern wäre kleinlich, ja lächerlich.

    Das Verkennen dieser Wahrheit, durch den Optimismus begünstigt, ist die Quelle vielen Unglücks. Während wir nämlich von Leiden frei sind, spiegeln unruhige Wünsche uns die Schimären eines Glückes vor, das gar nicht existiert, und verleiten uns, sie zu verfolgen: dadurch bringen wir den Schmerz, der unleugbar real ist, auf uns herab. Dann jammern wir über den verlorenen schmerzlosen Zustand, der, wie ein verscherztes Paradies, hinter uns liegt, und wünschen vergeblich, das Geschehene ungeschehn machen zu können. So scheint es, als ob ein böser Dämon uns aus dem schmerzlosen Zustande, der das höchste wirkliche Glück ist, stets herauslockte, durch die Gaukelbilder der Wünsche. - Unbesehens glaubt der Jüngling, die Welt sei da, um genossen zu werden, sie sei der Wohnsitz eines positiven Glückes, welches nur die vefehlen, denen es an Geschick gebricht, sich seiner zu bemeistern. Hierin bestärken ihn Romane und Gedichte, wie auch die Gleisnerei, welche die Welt, durchgängig und überall, mit dem äußern Scheine treibt, und auf die ich bald zurückkommen werde. Von nun an ist sein Leben eine, mit mehr oder weniger Ueberlegung angestellte Jagd nach dem positiven Glück, welches, als solches, aus positiven Genüssen bestehn soll. Die Gefahren, denen man sich dabei aussetzt, müssen in die Schanze geschlagen werden. Da führt denn diese Jagd nach einem Wilde, welches gar nicht existiert, in der Regel, zu sehr realem, positivem Unglück. Dies stellt sich ein als Schmerz, Leiden, Krankheit, Verlust, Sorge, Armut, Schande und tausend Nöte. Die Enttäuschung kommt zu spät. - Ist hingegen, durch Verfolgung der hier in Betracht genommenen Regel, der Plan des Lebens auf Vermeidung der Leiden, also auf Entfernung des Mangels, der Krankheit und jeder Not, gerichtet; so ist das Ziel ein reales: da läßt sich etwas ausrichten, und um so mehr, je weniger dieser Plan gestört wird durch das Streben nach der Schimäre des positiven Glücks. Hiezu stimmt auch, was Goethe, in den Wahlverwandschaften, den, für das Glück der andern stets tätigen Mittler sagen läßt: "Wer ein Uebel los sein will, der weiß immer, was er will: wer was Besseres will, als er hat, der ist ganz farblind." Und dieses erinnert an den schönen französischen Ausspruch: le mieus est l'ennemi du bien. Ja, hieraus ist sogar der Grundgedanke des Kynismus abzuleiten, wie ich ihn dargelgt habe, in den Ergänzungen zur "Welt als Wille und Vorst.", Kap. 16. Denn was bewog die Kyniker zur Verwerfung aller Genüsse, wenn es nicht eben der Gedanke an die mit ihnen, näher oder ferner, verknüpften Schmerzen war, welchen aus dem Wege zu gehen ihnen viel wichtiger schien, als die Erlangung jener. Sie waren tief ergriffen von der Erkenntnis der Negativität des Genusses und der Positivität des Schmerzes; daher sie, konsequent, alles taten für die Vermeidung der Uebel, hiezu aber die völlige und absichtliche Verwerfung der Genüsse nötig erachteten; weil sie in diesen nur Fallstricke sahen, die uns dem Schmerze überliefern.

    In Arkadien geboren, wie Schiller sagt, sind wir freilich alle: d. h. wir treten in die Welt, voll Ansprüche auf Glück und Genuß, und hegen die törichte Hoffnung, solche durchzusetzen. In der Regel jedoch kommt bald das Schicksal, packt uns unsanft an und belehrt uns, daß nichts unser ist, sondern alles sein, indem es ein unbestrittenes Recht hat, nicht nur auf allen unsern Besitz und Erwerb und auf Weib und Kind, sondern sogar auf Arm und Bein, Auge und Ohr, ja, auf die Nase mitten im Gesicht. Jedenfalls aber kommt, nach einiger Zeit, die Erfahrung und bringt die Einsicht, daß Glück und Genuß eine Fata Morgana sind, welche, nur aus der Ferne sichtbar, verschwindet, wenn man herangekommen ist; daß hingegen Leiden und Schmerz Realität haben, sich selbst unmittelbar vertreten und keiner Illusion, noch Erwartung bedürfen. Fruchtet nun die Lehre; so hören wir auf, nach Glück und Genuß zu jagen, und sind vielmehr darauf bedacht, dem Schmerz und Leiden möglichst den Zugang zu versperren. Wir erkennen alsdann, daß das Beste, was die Welt zu bieten hat, eine schmerzlose, ruhige, erträgliche Existenz ist und beschränken unsere Ansprüche auf diese, um sie desto sicherer durchzusetzen. Denn, um nicht sehr unglücklich zu werden, ist das sicherste Mittel, daß man nicht verlange, sehr glücklich zu sein. Dies hatte auch Goethes Jugendfreund Merck erkannt, da er schrieb: "Die garstige Prätension an Glückseligkeit, und zwar an das Maß, das wir uns träumen, verdirbt alles auf dieser Welt. Wer sich davon losmachen kann und nichts begehrt, als was er vor sich hat, kann sich durchschlagen." (Briefe an und von Merck, S. 100.) Demnach ist es geraten, seine Ansprüche auf Genuß, Besitz, Rang, Ehre usf. auf ein ganz Mäßiges herabzusetzen; weil gerade das Streben und Ringen nach Glück, Glanz und Genuß es ist, was die großen Unglücksfälle herbeizieht. Aber schon darum ist jenes weise und ratsam, weil sehr unglücklich zu sein gar leicht ist; sehr glücklich hingegen nicht etwa schwer, sondern ganz unmöglich. Mit großem Rechte also singt der Dichter der Lebensweisheit:

    Auream quisquis mediocritatem
    Diligit, tutus caret obsoleti
    Sordibus tecti, caret invidenda
    Sobius aula.

    Saevius ventis agitatur ingens
    Pinus: et celsae graviore casu
    Decidunt turres: feriuntque summos
    Fulgura montes

    Wer aber vollends die Lehre meiner Philosophie in sich aufgenommen hat und daher weiß, daß unser ganzes Dasein etwas ist, das besser nicht wäre und welches zu verneinen und abzuweisen die größte Weisheit ist, der wird auch von keinem Dinge, oder Zustand große Erwartungen hegen, nach nichts auf der Welt mit Leidenschaft streben, noch große Klagen erheben über sein Verfehlen irgendeiner Sache; sondern wird von Platons "ούτε τι των άνϑρωπινων άξι𰎿ν μεγαληϛ σπουδηϛ" (rep. X, 604) durchdrungen sein, sowie auch hievon:

    Ist einer Welt Besitz für dich zerronnen,
          Sei nicht in Leid darüber, es ist nichts;
    Und hast du einer Welt Besitz gewonnen,
          Sei nicht erfreut darüber, es ist nichts.
    Vorüber gehn die Schmerzen und die Wonnen;
          Geh an der Welt vorüber, es ist nichts.

                            - Anwari Soheili. -
    (Siehe das Motto zu Sadis Gulistan, übers. von Graf.)

    Was jedoch die Erlangung dieser heilsamen Einsichten besonders erschwert, ist die schon oben erwähnte Gleisnerei der Welt, welche man daher der Jugend früh aufdecken sollte. Die allermeisten Herrlichkeiten sind bloßer Schein, wie die Theaterdekoration, und das Wesen der Sache selbst. Z. B. bewimpelte und bekränzete Schiffe, Kanonenschüsse, Illuminaten, Pauken und Trompeten, Jauchzen und Schreien usw., dies alles ist das Aushängeschild, die Andeutung, die Hieroglyphe der Freude: aber die Freude ist daselbst meistens nicht zu finden: sie allein hat beim Feste abgesagt. Wo sie sich wirklich einfindet, da kommt sie, in der Regel, ungeladen und ungemeldet, von selbst und sans façon, ja, still herangeschlichen, oft bei den unbedeutendesten, futilsten Anlässen, unter den alltäglichsten Umständen, ja, bei nichts weniger als glänzenden, oder ruhmvollen Gelegenheiten: sie ist, wie das Gold in Australien, hierhin und dorthin gestreuet, nach der Laune des Zufalls, ohne alle Regel und Gesetz, meist nur in ganz kleinen Körnchen, höchst selten in großen Massen. Bei allen jenen oben erwähnten Dingen hingegen ist auch der Zweck bloß, andere glauben zu machen, hier wäre Freude eingekehrt: dieser Schein, im Kopfe anderer, ist die Absicht. Nicht anders als mit der Freude verhält es sich mit der Trauer. Wie schwermütig kommt jener lange und langsame Leichenzug daher! der Reihe der Kutschen ist kein Ende. Aber seht nur hinein: sie sind alle leer, und der Verblichene wird eigentlich bloß von sämtlichen Kutschern der ganzen Stadt zu Grabe geleitet. Entsprechendes Bild der Freundschaft und Hochachtung dieser Welt! Dies also ist die Falschheit, Hohlheit und Gleisnerei des menschlichen Treibens. - Ein anderes Beispiel wieder geben wiele geladene Gäste in Feierkleidern, unter festlichem Empfange; sie sind das Aushängeschild der edelen, erhöhten Geselligkeit: aber statt ihrer ist, in der Regel, nur Zwang, Pein und Langeweile gekommen: denn schon wo viele Gäste sind, ist viel Pack, - und hätten sie auch sämtlich Sterne auf der Brust. Die wirklich Gute Gesellschaft nämlich ist, überall und notwendig, sehr klein. Ueberhaupt aber tragen glänzende, rauschende Feste und Lustbarkeiten stets eine Leere, wohl gar einen Mißton im Innern; schon weil sie dem Elend und der Dürftigkeit unsers Daseins laut widersprechen, und der Kontrast erhöht die Wahrheit. Jedoch von außen gesehn wirkt jenes alles: und das war Zweck. Ganz allerliebst sagt daher Chamfort: La société, les cercles, les salons, ce qu'on appelle le monde, est une pièce misérable, un mauvais opéra, sans intérêt, qui se soutlent un peu par les machines, les costumes, et les décorations. - Desgleichen sind nun auch Akademien und philosophische Katheder das Aushängeschild, der äußere Schein der Weisheit: aber auch sie hat meistens abgesagt und ist ganz wo anders zu finden. - Glockengebimmel, Priesterkostüme, fromme Gebärden und fratzenhaftes Tun ist das Aushängeschild, der falsche Schein der Andacht usw. - So ist denn fast alles in der Welt hohle Nüsse zu nennen: der Kern ist an sich selten, und noch seltener steckt er in der Schale. Er ist ganz wo anders zu suchen und wird meistens nur zufällig gefunden.


  2. Wenn man den Zustand eines Menschen, seiner Glücklichkeit nach, abschätzen will, soll man nicht fragen nach dem, was ihn vergnügt, sondern nach dem, was ihn betrübt: denn je geringfügiger dieses, an sich selbst genommen, ist, desto glücklicher ist der Mensch; weil ein Zustand des Wohlbefindens dazu gehört, um gegen Kleinigkeiten empfindlich zu sein: im Unglück spüren wir sie gar nicht.


  3. Man hüte sich, das Glück seines Lebens, mittelst vieler Erfordernisse zu demselben, auf ein breites Fundament zu bauen: denn auf einem solchen stehend stürzt es am leichtesten ein, weil es viel mehr Unfällen Gelegenheit darbietet und diese nicht ausbleiben. Das Gebäude unsers Glückes verhält sich also, in dieser Hinsicht, umgekehrt wie alle andere, als welche auf breitem Fundament am festesten stehn. Seine Ansprüche, im Verhältnis zu seinen Mitteln jeder Art, möglichst niedrig zu stellen, ist demnach der sicherste Weg, großem Unglück zu entgehn.

    Ueberhaupt ist es eine der größten und häufigsten Torheiten, daß man weitläuftige Anstalten zum Leben macht, in welcher Art auch immer dies geschehe. Bei solchen nämlich ist zuvörderst auf ein ganzes und volles Menschenleben gerechnet; welches jeoch sehr wenige erreichen. Sodann fällt es, selbst wenn sie so lange leben, doch für die gemachten Pläne zu kurz aus; da deren Ausführung immer sehr viel mehr Zeit erfordert, als angenommen war: ferner sind solche, wie alle menschlichen Dinge, dem Mißlingen, den Hindernissen so vielfach ausgesetzt, daß sie sehr selten zum Ziele gebracht werden. Endlich, wenn zuletzt auch alles erreicht wird, so waren die Umwandlungen, welche die Zeit an uns selbst hevorbringt, außer Acht und Rechnung gelassen; also nicht bedacht worden, daß weder zum Leisten, noch zum Genießen, unsere Fähigkeiten das ganze Leben hindurch vorhalten. Daher kommt es, daß wir oft auf Dinge hinarbeiten, welche, wenn endlich erlangt, uns nicht mehr angemessen sind; wie auch, daß wir mit den Vorarbeiten zu einem Werke die Jahre hinbringen, welche derweilen unvermerkt uns die Kräfte zur Ausführung desselben rauben. So geschieht es denn oft, daß der mit so langer Mühe und vieler Gefahr erworbene Reichtum uns nicht mehr genießbar ist und wir für andere gearbeitet haben; oder auch, daß wir den durch vieljähriges Treiben und Trachten endlich erreichten Posten auszufüllen nicht mehr imstande sind: die Dinge sind zu spät für uns gekommen. Oder auch umgekehrt, wir kommen zu spät mit den Dingen; da nämlich, wo es sich um Leistungen, oder Produktionen handelt: der Geschmack der zeit hat sich geändert; ein neues Geschlecht ist herangewachsen, welches an den Sachen keinen Anteil nimmt; andere sind, auf kürzeren Wegen, uns zuvorgekommen usf. Alles unter dieser nummer Angeführte hat Horaz im Sinne, wenn er sagt:

             quid aeternis minorem
    Consiliis animum fatigas?

    Der Anlaß zu diesem häufigen Mißgriff ist die unvermeidliche optische Täuschung des geistigen Auges, vermöge welcher das Leben, vom Eingange aus gesehn, endlos, aber wenn man vom Ende der Bahn zurückblickt, sehr kurz erscheint. Freilich hat sie ihr Gutes: denn ohne sie käme schwerlich etwas Großes zustande.

    Ueberhaupt aber ergeht es uns im Leben wie dem Wanderer, vor welchem, indem er vorwärtsschreitet, die Gegenstände andere Gestalten annehmen, als die sie von ferne zeigten, und sich gleichsam verwandeln, indem er sich nähert. Besonders geht es mit unseren Wünschen so. Oft finden wir etwas ganz anderes, ja, Besseres, als wir suchten; oft auch das Gesuchte selbst auf einem ganz anderen Wege, als den wir zuerst vergeblich danach eingeschlagen hatten. Zumal wird uns oft da, wo wir Genuß, Glück, Freude suchten, statt ihrer Belehrung, Einsicht, Erkenntnis, - ein bleibendes, wahrhaftes gut, statt eines vergänglichen und scheinbaren. Dies ist auch der Gedanke, welcher im Wilhelm Meister als Grundbaß durchgeht, indem dieser ein intellektueller Roman und eben dadurch höherer Art ist, als alle übrigen, sogar die von Waltger Scott, als welche sämtlich nur ethisch sind, d. h. die menschliche Natur bloß von der Willenseite auffassen. Ebenfalls in der Zauberflöte, dieser gotesken, aber bedeutsamen und vieldeutigen Hieroglyphe, ist jener selbe Grundgedanke, in großen und groben Zügen, wie die der Theaterdekorationen sind, symbolisiert; sogar würde er es vollkommen sein, wenn, am Schlusse, der Tamino, vom Wunsche, die Tamina zu besitzen, zurückgebracht, statt ihrer, allein die Weihe im Tempel der Weisheit verlangte und erhielte; hingegen seinem notwendigen Gegensatze, dem Papageno, richtig seine Papagena würde. - Vorzügliche und edle Menschen werden jener Erziehung des Schicksals bald inne und fügen sich bildsam und dankbar in dieselbe: sie sehn ein, daß in der Welt wohl Belehrung, aber nicht Glück zu finden sein, werden es sonach gewohnt und zufrieden, Hoffnungen gegen Einsichten zu vertauschen, und sagen endlich mit Petraca:

    Altro diletto, che 'mparar, non provo.

    Es kann damit sogar dahin kommen, daß sie ihren Wünschen und Bestrebungen gewissermaßen nur noch zum Schein und tändelnd nachgehn, eigentlich aber und im Ernst ihres Innern bloß Belehrung erwarten; welches ihnen alsdann einen beschaulichen, genialen, erhabenen Anstrich gibt. - Man kann in diesem Sinne auch sagen, es gehe uns wie den Alchimisten, welche, indem sie nur Gold suchten, Schießpulver, Porzellan, Arzneien, ja Naturgesetze entdeckten.