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F. B.

Die Zeit in der Kürze unseres Lebens



Was ist die Zeit?
Ein Geheimnis - wesenlos und allmächtig. Eine Bedingung der Erscheinungswelt, eine Bewegung, verkoppelt und vermengt dem Dasein der Körper im Raum und ihrer Bewegung.
Wäre aber keine Zeit, wenn keine Bewegung wäre? Keine Bewegung, wenn keine Zeit?
Frage nur!
Ist die Zeit eine Funktion des Raumes? Oder umgekehrt? Oder sind beide identisch?
Nur zu gefragt!
Die Zeit ist tätig, sie hat verbale Beschaffenheit, sie "zeitigt".
Was zeitigt sie denn?
Veränderung!
Jetzt ist nicht damals, hier nicht dort, denn zwischen beiden liegt Bewegung. Da aber die Bewegung, an der man die Zeit mißt, kreisläufig, in sich selber beschlossen, so ist das eine Bewegung und Veränderung, die man fast ebensogut als Ruhe und Stillstand bezeichnen könnte; denn das Damals wiederholt sich beständig im Jetzt, das Dort im Hier.
Da ferner eine endliche Zeit und ein begrenzter Raum auch mit der verzweifeltsten Anstrengung nicht vorgestellt werden können, so hat man sich entschlossen, Zeit und Raum als ewig und unendlich zu "denken" - in der Meinung offenbar, dies gelinge, wenn nicht recht gut, so doch etwas besser.
Bedeutet aber nicht die Statuierung des Ewigen und Unendlichen die logisch-rechnerische Vernichtung alles Begrenzten und Endlichen, seine verhältnismäßige Reduzierung auf Null? Ist im Ewigen ein Nacheinander möglich, im Unendlichen ein Nebeneinander? Wie vertragen sich mit den Notannahmen des Ewigen und Unendlichen Begriffe wie Entfernung, Bewegung, Veränderung, auch nur das Vorhandensein begrenzter Körper im All?
Das frage du nur immerhin!

(Thomas Mann: "Der Zauberberg", sechstes Kapitel: "Veränderungen")

Die Kürze der Lebenszeit steht in einem argen Mißverhältnis zur Fülle unserer Aufgaben, Ziele und Wünsche. Auch andere Dinge sind knapp: das Geld, die Arbeit und das Vergnügen. Die Zeit ist jedoch ein besonderes Mangelgut. Jeder gelebte Tag unseres Lebens bringt uns ein Stück dem Ende unserer irdischen Zeit näher. Jeder Tag, den wir durchleben ohne zu leben, ist verloren und läßt sich durch nichts auf der Welt zurückgewinnen.

Der griechischen Arzt Hippokrates brachte das Dilemma mit dem berühmten Satz "Kurz ist das Leben, lang ist die Kunst" auf den Punkt und eröffnete uns zugleich einen Weg für die Suche nach Auswegen: Wenn die Zeit nicht ausreicht, um alle Dinge zu erledigen, müssen wir das Leben verlängern oder das Pensum unserer Aufgaben kürzen.

Gemeint ist ein maßvoller Umgang mit der Zeit, der die antiken Philosophen Theophrast und Seneca dazu veranlaßt, die Zeit mit dem Geld zu vergleichen und angesichts der Lebenskürze zum sparsamen Gebrauch mit dem kostbaren Gut aufzurufen. Es gilt, den gesamten Alltag dem Diktat der sinnvollen Nutzung zu unterwerfen. "So vieles ist zu tun", schreibt der Humanist Leon Battista Alberti, "deshalb ordne ich alles, erwäge es und weise jeder Sache ihre eigene Zeit zu." Die Rationalisierung der Zeit wird auch in Benjamin Franklins Devise "time is money" deutlich. Sie wird zum kategorischen Imperativ der Marktwirtschaft erhoben, dem nichts mehr widerspricht, als die wertvolle Ressource Zeit ohne Rendite zu vergeuden.

Schon immer hatte die Menschheit das Bedürfnis, mit den verschiedensten Methoden die Spanne des Lebens auszudehnen, das normalerweise mit 35 Jahren seinen Zenit überschritten hat. So widmete sich der Arzt Hufeland, zu dessen Patienten Goethe und Schiller zählten, der Kunst der "Longävität", der Langlebigkeit durch makrobiotische Ernährung.

Der christliche Glaube ans Jenseits bildet einen weiteren Weg, sich mit der Kürze des Lebens zu arrangieren. Allerdings wird dem Jenseitsbereich allgemein ein zeitlicher Raum jenseits des irdischen Lebens als Totenreich oder Himmelreich zugeordnet. Am deutlichsten spiegeln sich die Jenseitsvorstellungen in der menschlichen Bestattungskultur wider. Schon die Beigaben der ältesten Grabfunde belegen, daß das irdische Leben als Teil eines größeren Ganzen angesehen wurde. Dieses Ganze hatte in der Regel seine wesentliche Bedeutung in der jenseitigen Welt; die ihrerseits das Diesseits in den Schatten stellte.

Der Wert der Zeit wird uns über die Eschatologie, der Lehre von den "letzten Dingen" und dem Untergang der bisher bestehenden Welt, intensiv vor Augen gehalten. Die Eschatologie ist verbunden mit der Vollendung des Einzelnen und der Schöpfung, und betrifft auch die Vorstellungen von Tod und Jenseits. Aus der alten Welt, die einer Erlösung bedarf, geht eine neue Welt hervor. Diese Lehre findet man nicht nur im Christentum, sondern in einer Vielzahl von Religionen und Mythen wie z.B. in der ägyptischen Religion, im Lamaismus und auch im Islam.

Es ergibt sich die Frage, ob es ohne Eschatologie überhaupt eine Diktatur der Zeitknappheit gäbe. Ist die Lehre von den letzten Dingen nicht der Grund dafür, daß die begrenzte Lebenszeit als Problem erfahren wird? Denn ohne Hoffnung auf ewiges Leben und den Zwang zur weltlichen Bewährung fehlte der existenzielle Druck, der die temporale Knappheit überhaupt erst erzeugt.

Daß das Ende der Zeit nicht nur eine Verheißung, sondern ebenso eine permanente Bedrohung darstellt, zeigen die verschiedenen Bewältigungsstrategien. Zu ihnen gehören die Suche nach dem "günstigen Moment des Handelns" und dem "erfüllten Augenblick".

Um die Öffnung der Schere zwischen Lebenszeit und Weltzeit möglichst schmal zu halten, hat der eilende Mensch seine Existenz ins Korsett der fristgerechten Termine gezwängt. Terminfristen und Rechtsfristen sorgen dafür, daß sich innerhalb des Minimums an verfügbarer Zeit ein Maximum an Aktivitäten unterbringen läßt. Das Bewußtsein über das "Sein zum Tode", durch das der Mensch nach Heidegger gekennzeichnet ist, wird im Alltag aus unserem Sinn verdrängt.

Mit den Fristen, die der Mensch sich ersonnen hat, um sein Leben in den Griff zu bekommen, versucht er sein Leben an seine eigene Lebensfrist anzupassen. Nicht von ungefähr läßt sich das lateinische Wort "tempus" mit "Zeit", aber auch mit "Schläfe" übersetzen. Die Bezeichnung Schläfe kommt daher, weil der Schlafende auf ihr ruht. Wir ruhen also in der Zeit.

Im Pulsschlag der Zeit wird der Mensch an seine Sterblichkeit erinnert, vor der es keine Ausflucht gibt. Es zeigt sich vielmehr, daß sämtliche Versuche, durch den Glauben ans Jenseits oder lebenszeitliche Beschleunigungen den Fristcharakter des Daseins zu überwinden, ihn letztlich nur verstärken und das ist auch gut so: Wir müssen uns der Kürze des Lebens bewußt zu werden, um seine Knappheit bewältigen zu können. Das Beste, hat Tucholsky einmal in Abwandlung einer antiken Weisheit gesagt, ist es, nicht geboren zu werden - nur wem passiere das schon?

Antoine de Saint-Exupéry beschreibt aus der Grenzerfahrung der erlebten Zeit eine tiefsinnige Erkenntnis:

"Als ich durch die Wüste mit dem Tod um die Wette ging, habe ich wieder einmal einer Erkenntnis gegenübergestanden, die dem Kopf so schwer eingehen will. Ich habe mich verloren gegeben, ich glaubte, in den Abgrund der Verzweiflung zu stürzen; aber ich brauchte nur zu verzichten, um Frieden zu finden. Der Mensch muß wohl solche Stunden erleben, um sich selbst zu finden und sein eigener Freund zu werden.

Das, worauf es im Leben am meisten ankommt, können wir nicht voraussehen. Die schönste Freude erlebt man immer da, wo man sie am wenigsten erwartet hat. Diese Sternstunden aber lassen eine so tiefe Sehnsucht im Herzen zurück, daß manche Menschen Heimweh nach ihren trübsten Zeiten fühlen, wenn diesen ihre Freuden entsprossen sind."



Literatur:

Harald Weinrich:
Knappe Zeit - Kunst und Ökonomie des befristeten Daseins;
C. H. Beck Verlag, München 2004; 271 S.