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Dr. med. vet. S. B.

Wozu sind die Korallenfische so bunt?

An irgendeiner Stelle der Welt ist immer Krieg. Welches sind die Ursachen, die dazu führen, daß die menschliche Aggression, wie sie es im Augenblick tut, die Menschheit mit Untergang bedroht? Kann Einsicht in diese Ursachen uns die Macht verleihen, ihre Wirkung zu steuern? Auf diese Fragen kann nur die Naturwissenschaft, die letzten Endes nichts anderes ist als gesunder Menschenverstand, vernünftige Antworten geben.

Es gibt einen dem Tier und dem Menschen gemeinsamen Trieb, der uns heute interessieren soll, den Aggressionstrieb. Warum kämpfen Tiere einer Art miteinander? Warum tun dies sogar Menschen? Gibt es wirklich einen Selbstvernichtungstrieb (den Todestrieb Siegmund Freudes), der allen lebenserhaltenden Instinkten entgegenwirkt? Wir wollen heute den Gedanken des Verhaltensforschers Prof. Lorenz folgen, die er besonders in seinem Werk "Über das sogenannte Böse" dargestellt hat.

Wozu sind die Korallenfische so bunt? Wenn ein Biologe in dieser Form die Frage "wozu" stellt, so will er nicht den tiefsten Sinngehalt der Welt ergründen. Er möchte weit bescheidener etwas ganz Einfaches und prinzipiell Erforschbares erfahren. Wir wissen von Charles Darwin, daß es die Leistung des Organs ist, die seine Form verändert. Das Bessere ist überall der Feind des Guten. Wenn durch eine zufällige Erbänderung ein Organ ein klein wenig besser und leistungsfähiger ausfällt, so wird der Träger dieses Merkmals samt seinen Nachkommen zu einer tödlichen Konkurrenz für seine nicht gleichermaßen begabten Artgenossen. Über kurz oder lang müssen diese vom Erdball verschwinden. Dieses allgegenwärtige Geschehen nennt man natürliche Zuchtwahl oder Selektion. Diese Selektion ist der eine große Konstrukteur des Artenwandels. Der andere ist die Erbänderung, die Mutation. Die Mutation liefert der Selektion das Material. Die zahllosen zweckmäßigen Baupläne der Tier- und Pflanzenkörper verschiendenster Arten verdanken ihr Dasein der Arbeit von Mutation und Selektion in Millionen von Jahren.

Manchen mag es enttäuschend erscheinen, daß die Formenfülle des Lebendigen, dessen harmonische Gesetzmäßigkeit unsere Ehrfurcht erweckt und dessen Schönheit unseren Sinn für Ästhetik entzückt, auf so prosaische und kausal determinierte Weise zusammengekommen ist. Aber dem Naturforscher ist es ein Grund zu immer neuer Bewunderung, daß die Natur alle ihre wunderbaren Werke schafft, ohne je dabei gegen ihre eigenen Gesetze zu verstoßen.

Unsere Frage "wozu" kann also als eine sinnvolle Antwort nur dort erhalten, wo beide Konstrukteure, Mutation und Selektion, am Werke waren. Sie ist gleichbedeutend mit der Frage der arterhaltenden Leistung. Wozu hat die Katze spitze krumme Krallen? Zum Mäusefangen. Das Mäusefangen ist die arterhaltende Leistung, die allen Katzen die Form von Krallen angezüchtet hat. - Wenn andererseits beim Haushuhn oder anderen domestizierten Tieren, die der Mensch schützt, die natürliche Zuchtwahl auf Schutzfarbe entfällt, können bunte und scheckige Färbungen entstehen. Hier ist es sinnlos zu fragen, "wozu" sind diese Tiere scheckig? Hier fehlt die natürliche Zuchtwahl, sie sind zufällig durch Mutation entstanden.

Zurück nun zur Ausgangsfrage: Wozu sind die Korallenfische so bunt? Welche arterhaltende Leistung hat sie herausgezüchtet? Die bunten Farben sind Kriegsfarben! Sie lösen beim Artgenossen, aber nur bei diesem, wütende Revierverteidigung aus, wenn der andere in das eigene Gebiet vordringt, und künden ihm furchterweckende Kampfbereitschaft an. Das gleicht übrigens völlig einem anderen für uns so schönen Naturphänomen, dem Vogelgesang, dem Lied der Nachtigall, das mit Ringelnatz "den Dichtern in die Verse drang". Auch der Nachtigallgesang dient nur dazu, Artgenossen kundzutun, daß das Revier einen kampffreudigen Besitzer gefunden hat.

Kampf ist ein allgegenwärtiger Zustand in der Natur. Wozu kämpfen Lebewesen miteinander? Darwins Kampf ums Dasein wird meist falsch verstanden als ein Kampf zwischen den Arten. Darwin aber meinte mit Kampf, der die Evolution vorwärtstreibt, die Konkurrenz zwischen den Nahverwandten! Das, was eine Art verschwinden läßt oder in eine andere verwandelt, ist die vorteilhafte "Erfindung", die einem oder wenigen Artgenossen im ewigen Würfelspiel der Erbänderungen in den Schoß fällt. Die Nachkommen dieser Glücklichen übervorteilen alle anderen, bis die Art nur aus Individuen besteht, denen die neue Erfindung zu eigen ist.

Natürlich gibt es auch den Kampf zwischen verschiedenen Arten (Raubtierbeute). Auch dieser Kampf hat eine arterhaltende Funktion. Die Schnelligkeit der gejagten Huftiere züchtet den Großkatzen gewaltige Sprungkraft und stark bewehrte Tatzen an; diese ihrerseits der Beute immer schärfere Sinne und flinkere Läufe.

Ein anderes Beispiel sind die immer härter und kaufähiger werdenden Zähne der pflanzenfressenden Säugetiere und die parallel verlaufende Entwicklung der Nahrungspflanzen, die durch Einlagerung von Kieselsäure, Stachelbildung und andere Schutzmaßnahmen sich gegen das Zerkautwerden immer mehr schützen.

Der Kampf zwischen Fressern und Gefressenen führt aber nie zur Ausrottung. Es entsteht immer ein Gleichgewichtszustand, der für beide Arten erträglich ist.

Der Dingo in Australien, vom Menschen dorthingebracht, rottete keine einzige Art seiner Beutetiere aus. Wohl aber die großen Beutelraubtiere, die auf die gleichen Tiere Jagd machten wie er. Das "moderne" Säugetier war dem Beutelwolf erheblich überlegen. Dessen Methoden "lohnten" nicht mehr. Er überlebte nur in Tasmanien, wo keine Dingos hingekommen waren.

In verderbenbringende Sackgassen kann sich die Entwicklung verirren, wenn nur der Wettbewerb der Artgenossen, ohne Beziehung zur außerartlichen Umwelt, allein Zuchtwahl treibt. Den bösen Wirkungen dieser intraspezifischen Selektion ist natürlich besonders der Mensch ausgesetzt. Er ist aller feindlichen Mächte seiner außerartlichen Umwelt Herr geworden. Er ist nur noch sein eigener Feind (homo homini lupus). Dieser intraspezifische Wettbewerb ist vielmehr die Wurzel alles Bösen als es Aggression je sein kann.

Das verderbliche Übermaß an Aggressionstrieb, daß uns Menschen als böses Erbe in den Knochen steckt, ist in Jahrzehntausenden durch intraspezifische Selektion verursacht. Nachdem die Menschen gerade soweit waren, daß sie sich durch Bewaffnung, Bekleidung und soziale Organisation gegen Gefahren von außen geschützt hatten, war der nunmehr Auslese treibende Faktor der Krieg untereinander. Er muß eine extreme Herauszüchtung aller sogenannter "kriegerischer Tugenden" bewirkt haben, die leider heute noch vielen Menschen als erstrebenwerte Ideale erscheinen.

Trotzdem ist die intraspezifische Aggression nicht nur das vernichtende Prinzip, sondern auch ein Teil der lebenserhaltenden Organisation aller Wesen. Sie kann in Fehlfunktionen verfallen und Leben vernichten. Sie ist aber vom großen Geschehen des organischen Werdens zum Guten bestimmt. Hierher gehören z.B. die arterhaltenden Rangordnungskämpfe vieler Tierarten, durch die immer nur die Kräftigsten sich fortpflanzen. Die Aggression kann auch durch Um- oder Neuorientierung des Angriffs in unschädliche Bahnen gelenkt werden. Dadurch gehorchen viele höheren Tiere fast unverbrüchlichen Gesetzen, die den heiligsten Sitten und Gebräuchen der Kulturmenschen ähneln. Diesen Vorgang bezeichnet man als Ritualisation. Es gibt viele Analogien zwischen dem phylogenitisch entstandenen tierischen und den kulturhistorisch entstandenen menschlichen Ritualen.

Ein Beispiel ist dazu das sogenannte Hetzen der weiblichen Enten. Ursprünglich ist es ein Vorpreschen der weiblichen Ente gegen ein feindliches Entenpaar, dann die Flucht zurück zum schützenden Gatten. Dort erwacht ihr neuer Mut und sie beginnt erneut, zum feindlichen Nachbarn zu drohen. Diese zeitliche Aufeinanderfolge des Überwiegens von Angriffslust, Flucht, Schutzsuchen und neuer Angriffsstimmung ist nun zu einem feststehenden Vorgang geworden, zu einer phylogenetischen Ritualisierung. Diese besteht immer darin, daß eine neue Instinktbewegung entsteht, deren Form diejenige einer veränderlichen und von mehreren Antrieben verursachten Verhaltensweise nachahmt. Ähnliches gibt es bei Insekten. Die maurische Tanzfliege ist ein Beispiel. Hier spinnt das Männchen kleine Schleier, in denen etwas Freßbares eingewoben ist. Dieses wird vom Weibchen bei der Begattung gefressen. Bei der Tanzfliege der Alpen spinnen die Männchen nur noch die Schleier ohne Freßbares darin. Sie locken damit nur noch symbolisch die Weibchen an. Eine ursprünglich anderen Zwecken dienende Handlungskette wird zum Selbstzweck sobald sie Ritual geworden ist. Und dieses Ritual ist kein Nebenprodukt des Bandes, das die Tiere zusammenhält, sondern es ist das Band. Es ist eine wichtige Tatsache, daß durch den Vorgang der stammesgeschichtlichen Ritualisierung jeweils ein neuer autonomer Instinkt entsteht, gleichwertig den andern großen Trieben wie Ernährung, Begattung, Flucht und Aggression.

Menschliche Rituale entstehen mit der Geschichte menschlicher Kulturen und sind nicht erblich. Sie müssen von jedem Individuum neu erlernt werden. Sonst aber gehen die Parallelen sehr weit. Ein großes gemeinsames Element ist die Gewohnheit. Wie oft benutzen wir z. B. immer den gleichen Straßenanzug, um mit dem Auto in die Stadt zu fahren. Es gibt aber auch Gewohnheiten, die nicht mehr selbst erworben sind, sondern schon von den Eltern oder von einer Kultur. Der fromme Jude ißt kein Schweinefleisch ohne selber noch zu wissen, daß die Trichinengefahr einmal seinen Gesetzgeber veranlaßte, den Schweinefleischgenuß zu verbieten. Im Laufe sehr langer Zeiten läßt die überhöhte Vaterfigur des Gesetzgebers die Vorschrift göttlich und die Übertretung zur Sünde werden. Ein zweites Beispiel ist die Befriedigungszeremonie der Indianer. Wie wird es zunächst gewesen sein? Zwei Indianerhäuptlinge treffen sich, um irgendeinen Streitfall zu verhandeln, ohne Waffen. Keiner will die Verhandlung beginnen. Sie sind verlegen, keiner möchte seine innere Bewegung verraten. Sie geraten nun in eine Konfliktsituation zwischen ihrem Wollen, nämlich ihren eigenen Standpunkt in der Verhandlung durchzusetzen, und den starken Gegengründen des anderen, durch die das verhindert wind. Hier ist es für sie eine Erleichterung, ein neutrales Drittes zu tun. Der eine Indiander zündet sich seine Pfeife an, der andere tut das gleiche. Später entstand bei den Indianern daraus das Ritual der Friedenspfeife. Übrigens liegt bei heutigen Rauchern im Falle eines inneren Konflikts dieselbe Verhaltensweise nahe.

Das Ritual behält den Charakter der "lieben Gewohnheit". Es wird stärker geliebt als die im Laufe eines individuellen Lebens entstandene Gewohnheit. Der Bilderstürmer irrt, wenn er das Gepräge des Rituals für eine schädliche Äußerlichkeit hält. Das Ritual ist ein wichtiger Antrieb sozialen Verhaltens. Wenn wir z. B. Freude am Weihnachtsbaum und Weihnachtskerzen haben, so ist dafür die Voraussetzung, daß wir das Überlieferte lieben. Von der Wärme dieses Gefühls hängt die Treue ab, die wir dem Symbol und dem, was es darstellt, zu halten vermögen. Diese Wärme des Gefühls nur läßt uns die von unserer Kultur erschaffenen Güter als Werte erkennen. Die Rituale bei Mensch und Tier haben sicher die Wirkung, die Aggression im Zaume zu halten und ihre schädlichen Auswirkungen zu steuern. Also müssen wir auch den Ritualen anderer Kulturen zubilligen, daß sie für andere als höchste Werte gelten. Tun wir das nicht, so kann gerade die Unverbrüchlichkeit der Rituale zum Verderben führen. Der Religionskrieg oder Weltanschauungskrieg ist der schrecklichste aller Kriege.

Können wir nun aus den tierischen Verhaltensweisen etwas lernen, das auf den Menschen anwendbar ist, zur Verhütung der Gefahren, die ihm aus seinem Aggressionstrieb erwachsen?

Es gibt Leute, die schon in dieser Frage eine Beleidigung der Menschenwürde sehen. Allzugern sieht sich der Mensch als Mittelpunkt des Weltalls. Er bleibt taub gegenüber dem klügsten Befehl, den je ein Weiser gegeben hat: "Erkenne dich selbst". Es sind drei Hindernisse, die vielen Menschen es schwer machen, diesem Gebot zu gehorchen. Das erste Hindernis ist das primitivste. Es verhindert die Selbsterkenntnis des Menschen dadurch, daß es ihm die Einsicht in das eigene historische Gewordensein verwehrt. Der menschliche Hochmut will es nicht zulassen, im Schimpansen seinen nächsten Verwandten zu sehen. Dabei ist es in Wahrheit sehr wahrscheinlich, daß der gemeinsame Ahne von Mensch und Schimpanse nicht tiefer, sondern wesentlich höher stand als der heutige Schimpanse. So lächerlich diese Abwehrrekation des Menschen ist, so hat sie doch manche Denker verleitet, mit logischen Purzelbäumen und sophistischen Umwegen andere Abstammungstheorien aufzustellen.

Das zweite Hemmnis der Selbsterkenntnis ist die gefühlsmäßige Abneigung gegen die Erkenntnis, daß unser Tun und Lassen den Gesetzen natürlicher Verursachung unterliegt. Es hängt mit dem berechtigten Bedürfnis nach Freiheit des eigenen Willens zusammen, das eigene Handeln nicht durch zufällige Ursachen, sondern durch hohe Ziele bestimmen zu lassen.

Das dritte Hemmnis menschlicher Selbsterkenntnis ist ein Erbe idealistischer Philosophie. Diese nämlich teilt in die äußere Welt der Dinge, die idealistischem Denken als wertindifferent gilt, und in die geistige Welt der inneren Gesetzlichkeit des Menschen, der allein Werte zuerkannt werden. Diese Zweiteilung läßt sich die Egozentrizität des Menschen gern gefallen; sie kommt der Abneigung gegen die eigene Naturgesetzlichkeit in erwünschter Weise entgegen. Wie tief dieses Denken in die Allgemeinheit eingedrungen ist, sieht man schon an der Bedeutungsänderung, die die Worte "Idealist" und "Realist" in der deutschen Sprache erfahren haben. Sie bezeichneten ursprünglich philosophische Einstellungen und werden heute als moralische Werturteile gebraucht.

Diese drei hochmütigen Hemmnisse der Selbsterkenntnis verhindern weitgehend die Erforschung des sozialen Geschehens der Menschen. Uns sind heute die Funktionen unseres Verdauungsapparates bestens bekannt, aber der pathologischen Auflösung unserer sozialen Struktur stehen wir machtlos gegenüber. Wenn sich die Menschheit, mit Atomwaffen in der Hand, in sozialer Hinsicht nicht vernünftiger zu verhalten weiß als irgendeine Tierart, so liegt das zum großen Teil an der hochmütigen Überbewertung des eigenen Verhaltens und seiner daraus folgenden Ausklammerung aus dem als erforschbar betrachteten Naturgeschehen. Die Naturforscher haben keine Schuld an der mangelnden Selbsterkenntnis der Menschen. Giordano Bruno ist von seinen Zeitgenossen verbrannt worden, Charles Darwin hätten sie am liebsten umgebracht, Siegmund Freund warfen sie wertblinden Materialismus vor. Die Naturforscher halten es für das Überheblichste und Gefährlichste aller Dogmen, daß der heutige Mensch die schlechthin nicht mehr zu übertreffende Krone der Schöpfung sein soll. In Wahrheit sind wir das höchste, was die großen Konstrukteure des Artenwandels auf Erden bisher erreicht haben; wir sind im Moment ihr "letzter Schrei", nicht aber ihr letztes Wort. Das langgesuchte Zwischenglied zwischen dem Tier und dem wahrhaft humanen Menschen sind wir!

Erkenntnis, die dem begrifflichen Denken entsprang, vertrieb den Menschen aus dem Paradies, in dem er bedenkenlos seinen Instinkten folgen konnte. Begriffliches Denken schenkte ihm die ersten Werkzeuge: Faustkeil und Feuer. Er benutzte diese sofort dazu, seinen Bruder totzuschlagen und zu braten. Viele Funde beweisen das. Das begriffliche Denken verschaffte dem Menschen die Herrschaft über seine außerartliche Umwelt, seine Wortsprache und damit die Möglichkeit einer Kulturentwicklung. Dieses alles aber bewirkte so grundlegende Änderungen der Lebensbedingungen des Menschen, daß die Anpassungsfähigkeit seiner Instinkte nicht mitkam. Das hätte katastrophale Folgen, gäbe es nicht auch die Verantwortlichkeit des Menschen. Die Meinung mancher Geisteswissenschaftler, daß alle menschlichen Verhaltensweisen, die nicht dem Wohle des Individuums, sondern dem der Gemeinschaft dienen, von vernunftmäßiger Verantwortung diktiert werden, ist falsch. Unser affenähnlicher Vorfahre war seinem Freund sicher ein ebenso treuer Freund, wie es auch viele andere Tiere sind. Er ging sicher mit todesverachtendem Einsatz seines Lebens zur Verteidigung seiner Sozietät vor, war schonungsvoll gegen seine Artgenossen und hatte dieselben Tötungshemmungen wie alle diese Tiere. Zu unserem Glück haben auch wir noch in vollem Maße diese tierischen Instinkte mitbekommen. Diese versagen natürlich, wenn das Opfer keine Gelegenheit mehr hat, durch Schreien, Demutsgebärden usw. die Aggressionshemmung des Angreifers wachzurufen. Unsere tieferen gefühlsmäßigen Schichten nehmen nicht zur Kenntnis, daß das Auslösen eines Schusses dem anderen Menschen die Eingeweide zerreißt. Bei noch größerer Entfernung versagt der natürliche Hemmungsmechanismus immer mehr, z. B. beim Drücken des Auslöseknopfes einer Raketenwaffe. Andererseits würde kein Mensch auch nur auf Hasenjagd gehen, wenn er das Wild mit den Zähnen und den Fingernägeln töten müßte.

Aus dem begrifflichen Denken erwächst dem Menschen eine Fähigkeit, die kein anderes Lebewesen hat: Die Vererbung erworbener Eigenschaften, wenn natürlich auch die Erbmasse nicht verändert wird. Wenn z. B. ein Mensch Pfeil und Bogen erfindet oder diese von einem Nachbarvolk stiehlt, so hat diese Errungenschaft in Kürze seine ganze Sozietät und seine Nachkommenschaft so fest, als hätten sie diese nicht im juristischen sondern im naturwissenschaftlichen Sinn ererbt. Dadurch geht das historische Werden viel schneller vor sich. Anpassungsvorgänge, die bisher geologische Epochen benötigten, spielen sich nun in wenigen Generationen ab. Über die in immer gleich langsamen Tempo ablaufende Stammesentwicklung, die Phylogenese, lagert sich nun die Geschichte ab, die Historie.

Alle kulturellen Errungenschaften des Menschen haben einen großen Haken: Sie betreffen nur solche Eigenschaften und Leistungen, die erlernbar sind. Sehr viele angeborene Verhaltensweisen sind das aber nicht. Das Tempo in deren Veränderlichkeit ist das alte geblieben, in dem sich alles Werden vollzog. Der erste Kain hat wahrscheinlich das Entsetzliche seiner Tat sofort erkannt. Es hat sich nicht erst herumsprechen müssen, daß die eigene Horde immer schwächer wird, je mehr Mitglieder man totschlägt. Es entstand jedenfalls eine erste, primitive Verantwortlichkeit, die die Menscheit vor der Selbstvernichtung bewahrte. Die erste Leistung, die verantwortliche Moral in der Menschheitsgeschichte vollbrachte, bestand also darin, das verlorene Gleichgewicht zwischen Bewaffnung und angeborener Tötungshemmung wiederherzustellen. Wenn wir mit 10 bis 15 unserer besten Freunde samt deren Familien in einem Siedlungsverbande leben würden wie in der Steinzeit, wo jeder auf den anderen völlig angewiesen ist, dann würde jeder schon aus natürlicher Neigung die 10 Gebote des mosaischen Gesetzes halten. Schon die Vergrößerung der Sozietät macht alles schwieriger. Man kann nur wenige wirklich gute Freunde haben. Außerdem bewirkt das Zusammendrängen vieler Individuen auf einem kleinen Raum eine Ermüdung aller sozialen Reaktionen. Mit höherer Entwicklung der Zivilisation wird es immer schwieriger.

Die Lehre von der Erbsünde besagt zu Recht, daß der Mensch seinen ererbten Neigungen nicht blindlings folgen darf, sondern lernen muß, sie zu beherrschen. Die Diskrepanz zwischen dem, was der Mensch aus natürlicher Neigung für die Allgemeinheit zu tun bereit ist, und dem, was sie von ihm fordert, wird immer größer werden. Die verantwortliche Moral ist nur ein Kompensationsmechanismus, der unsere Ausstattung mit Instinkten an die Anforderungen des Kulturlebens anpaßt und mit ihnen eine Systemganzheit bildet, also Energie kostet. Diese Auffassung von der wesentlichen Leistung verantwortlicher Moral vermag einen Widerspruch in der Kant'schen Morallehre auszulösen, der schon Schiller aufgefallen war: "Gern dien ich dem Freund, doch leider tue ich's aus Neigung, darum wurmt es mich oft, daß ich nicht tugendhaft bin". Wir alle aber dienen nicht nur dem Freunde, sondern beurteilen auch seine Freundestaten danach, ob es die warme, natürliche Neigung war, die ihn zu diesem Verhalten veranlaßte. Als getreue Kantianer müßten wir das Umgekehrte tun. Wir müßten den am meisten schätzen, der gegen die Neigung seines Herzens sich anständig gegen uns benimmt. In Wirklichkeit aber bringen wir solchem Wohltäter nur Achtung entgegen, Liebe bringen wir dem anderen entgegen. Wenn wir Handlungen eines Menschen beurteilen, so müssen wir die am höchsten beurteilen, die am wenigsten den natürlichen Neigungen entsprechen. Wenn wir uns aber einen Freund aussuchen, also einen Menschen beurteilen, werden wir immer den wählen, dessen freundschaftliches Verhalten ausschließlich dem Gefühl natürlicher Neigung entspringt.

Wer schon aus natürlicher Neigung sozial handelt, verfügt in Notzeiten über große moralische Reserven. Wer je Gelegenheit hatte, in Krieg und Kriegsgefangenschaft Menschen in großer Not zu erleben, der weiß, wie unvoraussagbar und plötzlich die moralische Dekompensation eintritt. Menschen, auf die man glaubte Häuser bauen zu können, brechen plötzlich zusammen, und andere, denen man gar nichts Besonderes zutraute, erweisen sich als Quellen uenerschöpflicher Kraft. Nach Kants kathegorischem Imperativ kann ein vernünfttiger Mensch eine Handlung nicht wollen, in deren Maxime er einen vernunftsmäßigen Widerspruch entdeckt hat. Das kann aber nur für wenige leidenschaftliche Verehrer der reinen Vernunft gelten. Alle anderen werden sich von ihrer natürlichen Neigung lenken lassen. In Wirklichkeit bedarf es eines nicht vernunft- sondern gefühlsmäßigen Faktors, um eine vernunftsmäßige Erkenntnis in einen Imperativ zu verwandeln! Denn wenn wir Nihilisten wären vom Typ Mephistoles mit der ehrlichen Ansicht "Drum besser wär's, daß nichts entstünde", so wäre in der Maxime unseres Handelns keinerlei vernunftsmäßiger Widerspruch, wenn wir auf den Auslöseknopf einer Wasserstoffbome drückten. Erst das Gefühl ist es, das auf kategorische Selbstbefragung einen Imperativ oder aber ein Verbot, ein Plus oder ein Minus, werden läßt. Das Gefühl entspringt tieferen Schichten, den höheren Tieren brüderlich verwandt, unserer Vernunft nicht mehr zugänglich. Aus diesen im Unterbewußtsein sich abspielenden Wechselwirkungen entspringt der Antrieb zu allen unseren Handlungen, auch Freundschaft, Liebe, Sinn für Schönheit, Drang zu künstlerischem und wissenschaftlichen Schaffen. Ein des Dranges der Dunkelheit, des sogenannten tierischen, völlig beraubter Mensch, also ein reines Vernunftwesen, wäre kein Engel, eher das Gegenteil.

Ein Mann, der einem in das Wasser gefallenen Kind nachspringt und es rettet, hat zwar scheinbar nach dem kathegorischen Imperativ gehandelt, in Wahrheit aber hat er rein instinktmäßig gehandelt. Jeder Pavian hätte dasselbe getan. Die Chinesen sagen, daß alles Tier im Menschen, nicht aber aller Mensch im Tier steckt. Ein Beispiel für eine eindeutig tierische, ererbte Verhaltensweise des Menschen ist die Begeisterung. Es ist die intraspezifische Aggression als Reaktion der sozialen Verteidigung, die den Begeisterten beherrscht. Sie kommt wie ein Reflex, wenn kämpferischer Einsatz für soziale Belange gefordert wird. Diese können sein Familie, Nation, Sportverein, alte Burschenherrlichkeit, Arbeitsethos u.v.a.

Demagogen benutzen die Begeisterung sehr zielbewußt, am liebsten mit Verallgemeinerungen: Die Juden, die Boches, die Tyrannen, der Kapitalismus, Faschismus, Bolschewismus, Imperialismus. Dazu gehört dann immer eine mitreißende Führerfigur und eine möglischt große Zahl von Mitgerissenen. Wir alle kennen die Gefühlsqualität der Begeisterung. Es läuft einem ein heiliger Schauer über den Rücken. Alle Hindernisse verlieren an Bedeutung; alle instinktiven Hemmungen, auch notfalls zu töten, fallen. Gegengründe erscheinen plötzlich nichtig und entehrend. In Wahrheit ist der heilige Schauer ein erhöhter Tonus der quergestreiften Muskulatur. Der Körper wird straffer gehalten, der Kopf höher, die Körperhaare sträuben sich. Der Schimpansenmann tut in gleicher Situation genau das Gleiche. Der heilige Schauer ist nur das Sträuben unseres nicht mehr vorhandenen Pelzes. Was der Affe dabei empfindet, wissen wir nicht, aber er würde ebenso heldenhaft sein Leben aufs Spiel setzen wie der begeisterte Mensch. Es ist nicht ernüchternd, sondern eine Mahnung zur Selbstbesinnung, daß die sozialen Verteidigungsreaktionen bei Mensch und Tier auf homologen Nervenbahnen verlaufen. Ein Mensch, der ihrer entbehrt, ist ein Instinktkrüppel. Ein Mensch aber, der sich von blinder Reflexhaftigkeit hinreißen läßt, ist eine Gefahr für die Menschheit, denn er ist ein leichtes Opfer für alle Demagogen. Also denken wir daran, wenn uns bei zackiger Marschmusik ein Schauer überlaufen sollte, daß auch die Schimpansen, wenn sie sich zum Angriff aufstacheln wollen, rhythmische Geräusche hervorbringen.

Wir wissen also nun etwas über die Gefahren des Aggressionstriebes. Was können wir dagegen tun? Zunächst zwei naheliegende Versuche, die bestimmt nicht funktionieren: 1. entsprechende Reizsituationen von den Menschen fernhalten; 2. den Aggressionstrieb systematisch wegzüchten. Wir wissen inzwischen, für wieviele Funktionen der Aggressionstrieb notwendig ist: Freundschaft, Liebe, Begeisterung sowie für jeden Antrieb, der mit Rangordnungsstreben und Ehrgeiz zu tun hat. Was also tun? Die Aggression muß auf ein geeignetes Ersatzobjekt umorientiert werden. Eine im menschlichen Kulturleben entwickelte, ritualisierte Sonderform des Kampfes ist der Sport. Er verhindert die sozietätsschädigenden Wirkungen der Aggression und erhält gleichzeitig ihre arterhaltenden Leistungen. Er wirkt außerdem segensreich, indem er wahrhaft begeisternden Wettstreit zwischen den Völkern ermöglicht. Die sogenannten kriegerischen Tugenden können in härtester Sportform ihre volle Befriedigung finden. Außerdem vermittelt der Sport das persönliche Kennenlernen von Menschen verschiedener Nationen, und die Begeisterung für die gleichen Ideale ist ein sehr wesentlicher Faktor, den Völkerhaß zu überwinden.

Eine gleiche segensreiche Aufgabe haben Kunst und Wissenschaft. Musik und bildende Künste haben keine sprachlichen Schranken und haben es daher besonders leicht. Deshalb muß Kunst immer unpolitisch bleiben! Wissenschaft ist nicht mehr allgemein verständlich; sie kann daher zunächst nur Brücken schlagen zwischen wenigen Individuen, zwischen diesen aber umso besser. Über Kunstwerke kann man noch verschiedener Meinung sein, in der Naturwissenschaft entscheidet die weitere Forschung eindeutig, ob eine Aussage richtig oder falsch war. Die wissenschaftliche Wahrheit ist das kollektive Eigentum der ganzen Menschheit. Gewiß kann man sich für die abstrakte Wahrheit begeistern, doch sie ist ein etwas trockenes Ideal, und es ist gut, daß man zu ihrer Verteidigung eine andere Verhaltensweise des Menschen heranziehen kann, nämlich das Lachen. Das Lachen über dieselbe Sache schafft ein Gefühl brüderlicher Zusammengehörigkeit. Es kann aber auch, wie die Begeisterung, eine aggressive Spitze gegen Außenstehende enthalten. Wer nicht mitlachen kann, fühlt sich ausgeschlossen. Beim Auslachen wird der Gehalt an Aggression noch deutlicher. Hunde aber, die bellen, beißen nur manchmal, und Menschen, die lachen, schimpfen nie. Im Gegensatz zur Begeisterung macht Lachen niemals unkritisch. Ein Kind auszulachen, ist ein Verbrechen. Aber man darf das Lachen bewußt und gezielt auf einen Feind hetzen. Dieser ist besonders die Lüge, die künstlich gemacht ist, um Verehrung und Begeisterung auszulösen. Es wirkt Weniges so komisch, wie deren plötzliche Entlarvung, wenn der Ballon der Aufgeblasenheit (z. B. eines Redners) unter dem Stich des Humors mit lautem Knall platzt. Das Lachen ist eine der wenigen Instinkthandlungen des Menschen, die von der kathegorischen Selbstbefragung uneingeschränkt bejaht werden. Wir müssen also den Humor viel ernster nehmen; er ist eine Segensmacht, die der in der heutigen Zeit schwer überforderten verantwortlichen Moral als starker Bundesgenosse zur Seite steht.