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Balthasar Gracians

(geb. 1604, gest. 1658)

Handorakel

Die Kunst der Weltklugheit - in dreihundert Lebensregeln

Regel 201-300



201
Narren sind alle, die es scheinen, und die Hälfte derer, die es nicht scheinen

Die Narrheit ist mit der Welt davongelaufen: und gibt es noch einige Weisheit, so ist sie Torheit vor der himmlischen. Jedoch ist der größte Narr, wer es nicht zu sein glaubt und alle andern dafür erklärt. Um weise zu sein, reicht nicht hin, daß man es scheine, am wenigsten sich selber. Der weiß, welcher nicht denkt, daß er wisse; und der sieht nicht, der nicht sieht, daß die anderen sehen. Obwohl die Welt voll Narren ist, so ist doch keiner, der es von sich dachte, ja nur argwöhnte.

202
Sagen, was vortrefflich, und tun, was ehrenvoll ist:

das eine zeigt die Vollkommenheit des Kopfes, das andere die des Herzens; beide gehen aus der Erhabenheit der Seele hervor. Die Rede ist der Schatten der Taten; jene ist weiblicher, dieser männlicher Natur. Besser gerühmt sein als ein Rühmer. Das Sagen ist leicht, das Tun schwer. Die Taten sind die Substanz des Lebens, die Reden sein Schmuck. Das Ausgezeichnete in Taten ist bleibend, das in Reden vergänglich. Handlungen sind Früchte der Gedanken; waren diese weise, so sind jene erfolgreich.

203
Das ausgezeichnete Große seines Jahrhunderts kennen

Es wird desselben nicht viel sein: ein Phönix in einer ganzen Welt, ein großer Feldherr, ein Weiser in einem ganzen Jahrhundert, ein großer König in vielen. Das Mittelmäßige ist sehr gewöhnlich, sowohl der Zahl als der Wertschätzung nach, hingegen das ausgezeichnete Große selten in jeder Hinsicht, weil es vollendete Vollkommenheit erfordert; je höher die Gattung, desto schwieriger ist das Höchste in ihr. Viele haben den Beinamen "Groß" angenommen, der höchstens dem Cäsar oder dem Alexander gebührt; aber es war vergeblich, da ohne die Taten das Wort ein bloßer Hauch ist. Wenige Philosophen im Range Senecas hat es gegeben und nur einen Apelles kannte die Welt.

204
Man untemehme das Leichte, als wäre es schwer, und das Schwere, als wäre es leicht:

jenes, damit das Selbstvertrauen uns nicht sorglos, dieses, damit die Zaghaftigkeit uns nicht mutlos mache. Damit eine Sache nicht getan werde, bedarf es nur, daß man sie als schon getan betrachte; demgegenüber machen Fleiß und Anstrengung das Unmögliche möglich. Über große Vorhaben soll man nicht grübeln, damit der Anblick der Schwierigkeit nicht unsere Tatkraft lähme.

205
Die Verachtung zu handhaben verstehen

Um ersehnte Dinge zu erlangen, dient der schlaue Kunstgriff, daß man sie geringschätze; gewöhnlich wird man ihrer nicht habhaft, wenn man sie sucht, und nachher, wenn man nicht darauf achtet, fallen sie uns von selbst in die Hand. Da alle Dinge dieser Welt ein Schatten der ewigen Dinge sind, so haben sie mit dem Schatten auch diese Eigenschaft gemein, daß sie den fliehen, der ihnen folgt, und dem folgen, der vor ihnen flieht. Die Verachtung ist ferner auch die klügste Rache, es ist feste Maxime der Weisen, sich nicht mit der Feder zu verteidigen, denn solche Verteidigung läßt eine Spur nach und schlägt mehr in Verherrlichung der Widersacher als in Züchtigung ihrer Verwegenheit aus. Es ist ein Kniff der Unwürdigen, als Gegner großer Männer aufzutreten, um auf indirektem Wege zu der Berühmtheit zu gelangen, welcher sie auf dem direkten durch Verdienste nie teilhaft geworden wären. Von vielen hätten wir nie Kunde erhalten haben, hätten ihre ausgezeichneten Gegner sich nicht um sie gekümmert. Keine Rache tut es dem Vergessen gleich, durch welches sie im Staube ihres Nichts begraben werden. Solche Verwegene wähnen sich dadurch unsterblich zu machen, daß sie an die Wunden der Welt und der Jahrhunderte Feuer anlegen. Die Kunst, die Verleumdung zu beschwichtigen, ist, sie unbeachtet zu lassen; gegen sie ankämpfen bringt Nachteil. Eine Herstellung unseres Ansehens, die es schmälert, ist den Gegnern wohlgefällig, denn selbst jener Schatten eines Makels benimmt unserem Ruhm seinen Glanz, wenn er ihn auch nicht ganz verdunkeln kann.

206
Man soll wissen, daß es überall Pöbel gibt,

selbst in dem schönen Korinth, selbst in der besten Familie; jeder macht seine Erfahrungen im eigenen Hause. Nun gibt es aber Pöbel und Gegen-Pöbel, der noch schlimmer ist: dieser spezielle teilt mit dem allgemeinen alle Eigenschaften wie die Stücke eines zerbrochenen Spiegels, nur ist er noch schädlicher. Er redet dumm, tadelt verkehrt, ist ein großer Schüler der Unwissenheit, Gönner und Patron der Narrheit sowie Bundesgenosse der Klatscherei. Man beachte nicht, was er sagt, noch weniger, was er denkt. Es ist wichtig, ihn zu kennen, um sich von ihm zu befreien, denn jede Dummheit ist Pöbelhaftigkeit, und der Pöbel besteht aus den Dummen.

207
Sich mäßigen

Man soll einen Fall wohl überlegen, zumal einen Unfall. Anwandlungen der Leidenschaft sind das Glatteis der Klugheit, und hier liegt die Gefahr, sich ins Verderben zu stürzen. Von einem Augenblick der Wut oder des Übermutes wird man weiter geführt als von vielen Stunden des Gleichmutes; und da bereitet manchmal eine unbedachte Minute die Beschämung des ganzen Lebens. Fremde Arglist legt oft absichtlich solche Versuchungen der Vernunft an, um eine Entdeckungsreise ins Innere des Geistes zu machen, und benutzt dergleichen Daumenschrauben der Geheimnisse, die imstande sind, den überlegensten Kopf zu verwirren. Als Gegenlist diene die Mäßigung, vorzüglich bei plötzlichen Fällen. Es bedarf eines sehr überlegten Geistes, daß nicht doch einmal das Roß der Leidenschaft mit ihm durchgeht. Wer die Gefahr begriffen hat, wandert mit Behutsamkeit seinen Weg. So leicht ein Wort dem scheint, der es hinwirft, so schwer dem, der es aufnimmt und wiegt.

208
Nicht an der Narrenkrankheit sterben

Meistens sterben die Weisen, nachdem sie den Verstand verloren haben; die Narren hingegen ganz voll von gutem Rat. Wie ein Narr sterben heißt, von zu vielem Denken sterben. Einige sterben, weil sie denken und empfinden; andere leben, weil sie nicht denken und empfinden: diese sind Narren, weil sie nicht vor Schmerz sterben, und jene, weil sie es tun. Ein Narr ist, wer an zu großem Verstande stirbt: demnach sterben einige, weil sie gescheit, und leben andere, weil sie nicht gescheit sind. Jedoch obgleich viele wie Narren sterben, so sterben doch wenige Narren.

209
Sich von allgemeinen Narrheiten frei halten

ist eine recht besondere Klugheit. Jene haben viel Gewalt, weil sie eben allgemein eingeführt sind, und mancher, der sich von keiner Privat-Narrheit überwältigen ließ, konnte doch der allgemeinen nicht entgehn. Dahin gehört hauptsächlich, daß keiner mit seinem Schicksale, und wäre es das beste, zufrieden noch unzufrieden mit seinem Verstande ist, wäre er auch der schlechteste; ferner, daß alle, mit ihrem eigenen Glücke unzufrieden, das fremde beneiden; sodann, daß die Leute des heutigen Tages die Dinge von gestern loben, und die von hier die Dinge von dort: alles Vergangene scheint besser, alles Entfernte wird höher geschätzt. Wer über alles lacht, ist ein ebenso großer Narr, wie wer sich über alles betrübt.

210
Die Wahrheit zu handhaben verstehen

Sie ist ein gefährlich Ding, jedoch kann ein rechtlicher Mann nicht unterlassen, sie zu sagen. Hier bedarf es nun der Kunst; geschickte Ärzte der Seele haben sie auf verschiedene Art zu versüßen unternommen, denn wenn Wahrheit auf Zerstörung einer Täuschung hinausläuft, ist sie die Quintessenz des Bitteren. Gute Manier erweist hierin ihre Geschicklichkeit: sie kann mit derselben Wahrheit dem einen schmeicheln und den anderen zu Boden werfen. Man behandle Aktuelles so, als erzähle man von etwas längst Vergangenem. Bei dem, der zu verstehen weiß, ist ein Wink hinreichend. Wäre aber nichts hinreichend, dann verstumme man. Fürsten darf man nicht mit bitteren Arzneien kurieren; deshalb ist es eine Kunst, Enttäuschungen zu vergolden.

211
Im Himmel ist alles Wonne,

in der Hölle alles Jammer, in der Welt, als dem Mittleren, das eine und das andere. Wir stehen zwischen zwei Extremen und sind daher beider teilhaft. Das Schicksal wechselt: es soll nicht alles Glück noch alles Mißgeschick sein. Diese Welt ist eine Null: für sich allein gilt sie nichts, aber mit dem Himmel als Eins voraus viel. Gleichmut bei ihrem Wechsel ist vernünftig. Neuheit ist nicht die Sache des Weisen. Unser Leben verwickelt sich in seinem Fortgang wie ein Schauspiel und entwickelt sich zuletzt wieder. Daher sei man auf das gute Ende bedacht.

212
Die letzten Feinheiten der Kunst stets zurückbehalten

Eine Maxime großer Meister, die ihre Klugheit, auch indem sie solche lehren, noch anwenden; immer muß man überlegen bleiben, immer Meister. Mit Kunst muß man die Kunst mitteilen, und nie die Quelle der Belehrung erschöpfen, so wenig wie die des Gebens. Dadurch erhält man sein Ansehen und die Abhängigkeit der anderen. Im Gefallen und im Belehren hat man jene große Vorschrift zu beobachten, stets dadurch, daß man imponiert, vorwärts zu treiben und die Vollkommenheit immer weiter zu führen. Reserve in allen Dingen ist eine große Regel im Leben, zum Siegen und am meisten auf hohen Stellen.

213
Zu widersprechen verstehen:

eine große Liste zum Erforschen; nicht um sich, sondern um den anderen in Verwicklung zu bringen. Die wirksamste Daumschraube ist die, welche die Affekte in Bewegung setzt; daher ist ein wahres Brechmittel für Geheimnisse die Lauheit im Glauben derselben: sie ist der Schlüssel zur verschlossensten Brust und untersucht zugleich den Willen und den Verstand. Eine schlaue Geringschätzung des mysteriösen Wortes, welches der andere fallen ließ, jagt die verborgensten Geheimnisse auf, bringt sie mit Süßigkeit in einzelnen Bissen zum Munde, bis sie auf die Zunge und von da ins Netz des künstlichen Betruges geraten. Die Zurückhaltung des Aufpassenden macht, daß die des anderen die Vorsicht aus der Acht läßt, und so kommt seine Gesinnung an den Tag, wenn auch sein Herz auf andere Weise unerforschlich war. Ein erkünsteltes Zweifeln ist der feinste Dietrich, dessen die Neugier sich bedienen kann, um herauszubringen, was sie verlangt. Auch beim Lernen sogar ist es eine gute List des Schülers, dem Lehrer zu widersprechen, der jetzt, von größerem Eifer hingerissen, sich tiefer in die Eröffnung des Grundes seiner Wahrheiten einläßt, so daß eine gemäßigte Widerrede eine vollendete Belehrung veranlaßt.

214
Nicht aus einem dummen Streich zwei machen;

es geschieht häufig, daß man, um einen zu verbessern, vier andere begeht, oder eine Ungehörigkeit durch eine größere gut machen will. Entweder stammt die Torheit aus der Familie der Lüge oder umgekehrt. Beide nämlich haben miteinander gemein, daß jede einzelne, um sich aufrecht zu erhalten, viele andere notwendig macht. Schlimmer als die schlechte Anklage war stets die Inschutznahme derselben; übler als das Übel selbst ist, dieses nicht verhehlen zu können. Es ist das Erbteil aller Unvollkommenheiten, daß jede noch viele andere als Zinsen trägt. Ein Versehen kann dem gescheitesten Mann begegnen, nicht jedoch zwei; und selbst jenes nur in der Eile, nicht beim Verweilen.

215
Vorsicht vor dem, der sich aus dem Hinterhalt naht

Es ist eine List der Unterhändler, den fremden Willen einzuschläfern, um ihn anzugreifen. Ist er umgangen, dann ist er überwunden. Sie verhehlen ihre Absicht, um sie zu erreichen, und stellen sich zu hinterst, damit sie bei der Ausführung vorne zu stehen kommen. Der Streich gelingt, wenn man ihn nicht bemerkt. Daher schlafe die Aufmerksamkeit nicht, denn die Absichtlichkeit ist immer wach. Und stellt diese sich nach hinten, um sich zu verstecken, so trete jene, die Aufmerksamkeit, nach vorne, um sie zu erkennen. Die Vorsicht bemerke die Künste, mit denen ein Mann aus dem Hinterhalt sich naht, und sehe die Vorwände, die er, um seine wahre Absicht zu erreichen, aufstellt. Eins schlägt er vor, ein anderes will er haben. Plötzlich aber kehrt er es geschickt um und trifft gerade in das Zentrum seiner Zielscheibe. Man wisse deshalb, was man ihm einräumt. Und bisweilen wird es gut sein, ihm zu verstehen zu geben, daß man ihn verstanden hat.

216
Die Kunst des Ausdrucks besitzen:

sie besteht nicht nur in der Deutlichkeit, sondern auch in der Lebendigkeit des Vortrags. Einige haben eine glückliche Empfängnis, aber eine schwere Geburt; ohne Klarheit können die Kinder des Geistes, die Gedanken und Beschlüsse, nicht wohl zur Welt gebracht werden. Manche gleichen in ihrer Fassungskraft jenen Gefäßen, die zwar viel fassen, aber wenig von sich geben. Andere wieder sagen sogar mehr, als sie gedacht haben. Was für den Willen die Entschlossenheit, ist für den Verstand die Gabe des Vortrags: zwei hohe Vorzüge. Die Köpfe, welche die Gabe lichtvoller Klarheit haben, erlangen Beifall; die verworrenen werden bisweilen verehrt, weil sie keiner versteht. Zu Zeiten ist es passend, dunkel zu sein, um nicht gemein zu werden; allein wie sollen die Hörer den begreifen, der mit dem, was er sagt, eigentlich selbst keinen Begriff verknüpft?

217
Nicht auf immer lieben, noch hassen

Seinen heutigen Freunden traue man so, als ob sie morgen Feinde sein würden, und zwar die schlimmsten. Da dieses in der Wirklichkeit Statt hat, so finde es solche auch in der Vorkehr. Man gebe nicht den Überläufern der Freundschaft Waffen in die Hände, mit denen sie nachher den blutigsten Krieg führen. Dagegen stehe den Feinden beständig die Türe zur Versöhnung offen, und zwar sei es die des Edelsinns, als die sicherste. Manchem ist schon seine frühere Rache zur Qual geworden, und die Freude über seinen verübten bösen Streich hat sich in Betrübnis verkehrt.

218
Nie aus Eigensinn handeln, sondern aus Einsicht

Jeder Eigensinn ist ein Erzeugnis der Leidenschaft, welche noch nie die Dinge richtig geleitet hat. Es gibt Leute, die aus allem einen kleinen Krieg machen, wahre Banditen des Umgangs. Alles, was sie ausführen, soll zu einem Siege werden, und sie kennen kein friedliches Verfahren. Diese sind, wenn sie gebieten und herrschen, verderblich, denn sie machen aus der Regierung eine Partei und Feinde aus denen, die sie als ihre Kinder ansehen sollten. Sie wollen alles durch Ränke vorbereiten und es sodann als die Frucht ihrer Künstelei erlangen. Allein wenn die übrigen ihren verkehrten Sinn erkannt haben, so lehnt alles sich gegen sie auf, weiß ihre unsinnigen Pläne zu stören und sie erlangen nichts, sondern tragen nur eine Last von Verdrießlichkeiten davon, indem alle helfen, ihr Leidwesen zu vermehren. Diese haben einen verschrobenen Kopf und mitunter auch ein verruchtes Herz. Gegen Ungeheuer dieser Art ist weiter nichts zu tun, als sie zu fliehen, und wäre es bis zu den Antipoden, deren Barbarei leichter zu ertragen sein wird als die Schreckensherrschaft jener.

219
Man gelte nicht für einen Mann von Verstellung,

obgleich sich's heutzutage ohne solche nicht leben läßt. Für vorsichtig sei man gehalten; nicht für listig. Daß man schlicht in seinem Tun sei, ist allen angenehm, wiewohl es nicht jeder für sein eigenes Haus mag. Aufrichtigkeit gehe nicht in Einfalt über, Klugheit nicht in Arglist. Man sei lieber als ein Weiser geehrt, als wegen seiner Schlauheit gefürchtet. Offenherzige werden geliebt, aber betrogen. Die größte Kunst bestehe darin, daß man bedecke, was für Betrug gehalten wird. Im goldenen Zeitalter war Geradheit an der Tagesordnung, in diesem eisernen ist es die Arglist. Der Ruf, ein Mann zu sein, der weiß, was er zu tun hat, ist ehrenvoll und erwirbt Zutrauen; aber der eines verstellten Menschen ist verfänglich und erregt Mißtrauen.

220
Wer sich nicht mit der Löwenhaut bekleiden kann, nehme den Fuchspelz

Der Zeit nachgeben, heißt sie überflügeln. Wer sein Vorhaben durchsetzt, wird nie sein Ansehen verlieren. Wo es mit der Gewalt nicht geht, versuche es mit der Geschicklichkeit, auf einem Wege oder dem andern, entweder auf der Heerstraße der Tapferkeit oder auf dem Nebenwege der Schlauheit. Mehr Dinge hat Geschick durchgesetzt als Gewalt, und öfter haben die Klugen die Tapferen besiegt als umgekehrt. Wenn man eine Sache nicht erlangen kann, verachte man sie.

221
Nicht leicht Anlaß nehmen, sich oder andere in Verwicklungen zu bringen

Es gibt Leute, die beständig gegen die Wohlanständigkeit verstoßen, indem sie in sich oder in anderen den Anstand verletzen. Man kommt leicht mit ihnen zusammen und mit Unannehmlichkeit wieder auseinander. Hundert Verdrießlichkeiten im Tage sind ihnen wenig. Ihre Laune hat das Haar wider den Strich, daher sie allem und jedem widersprechen; sie haben sich den Verstand verkehrt angezogen, weshalb sie alles verdammen. Jedoch sind die größten Versucher fremder Klugheit die, welche nichts gut machen und von allem schlecht sprechen. Es gibt gar viele Ungeheuer im weiten Reiche der Unziemlichkeit.

222
Zurückhaltung ist ein sicherer Beweis von Klugheit

Ein wildes Tier ist die Zunge: hat sie sich einmal losgerissen, so hält es schwer, sie wieder anzuketten. Sie ist der Puls der Seele, an welchem die Weisen die Beschaffenheit derselben erkennen; an diesem Puls fühlt der Aufmerksame jede Bewegung des Herzens. Das Schlimmste ist, daß, wer sich am meisten mäßigen sollte, es am wenigsten tut. Der Weise erspart sich Verdrießlichkeiten und Verwicklungen und zeigt seine Herrschaft über sich. Er geht seinen Weg behutsam, ein Janus an billigem Urteil, ein Argus an Scharfblick.

223
Nie etwas ganz Besonderes an sich haben

Manche haben auffallende Sonderlichkeiten an sich, verrückte Gebärden oder ähnliches. Das sind Fehler, keine Auszeichnungen. Und wie nun einige wegen einer besonderen Häßlichkeit ihres Gesichtes bekannt sind, so jene durch irgend etwas Anstößiges in ihrem Betragen. Solche Absurditäten wirken höchstens auffallend und erregen Gelächter oder Widerwillen.

224
Die Dinge nie wider den Strich nehmen, wie sie auch kommen mögen

Alle haben eine rechte und eine Kehrseite, und selbst das Beste und Günstigste verursacht Schmerz, wenn man es bei der Schneide ergreift. Hingegen wird das Feindseligste zur schützenden Waffe, wenn beim Griff angefaßt. Über viele Dinge hat man sich schon geärgert, über welche man sich würde gefreut haben, hätte man ihre Vorteile erwogen. In allem liegt Günstiges und Ungünstiges: die Geschicklichkeit besteht im Herausfinden des Vorteilhaften. Dieselbe Sache nimmt sich, in verschiedenem Lichte gesehen, gar verschieden aus; man betrachte sie also in günstigem Lichte und verwechsle nicht das Gute mit dem Schlimmen. Hieraus ergibt sich, daß manche aus allem Zufriedenheit, andere aus allem Betrübnis schöpfen. Diese Betrachtung ist eine große Schutzwehr gegen die Widerwärtigkeiten des Geschicks und eine wichtige Lebensregel für alle Zeiten und alle Stände.

225
Seinen Hauptfehler kennen!

Keiner lebt, der nicht das Gegengewicht seines glänzendsten Vorzugs in sich. trüge. Wird dieses noch von der Neigung begünstigt, so erlangt es eine tyrannische Gewalt. Man eröffne den Krieg dawider durch Aufrufen der Sorgfalt dagegen, und der erste Schritt sei, seinen Hauptfehler sich offenbar zu machen: denn einmal erkannt, wird er bald besiegt sein, vorzüglich, wenn der damit Behaftete ihn ebenso deutlich auffaßt wie die Beobachter. Um Herr über sich zu sein, muß man sich gründlich kennen. Hat man erst jenen Anführer seiner Unvollkommenheiten zur Unterwerfung gebracht, werden alle übrigen nachfolgen.

226
Stets aufmerksam sein, Verbindlichkeiten zu erzeigen

Die Meisten reden nicht gewissenhaft, sondern je nach ihren Verbindlichkeiten. Das Schlechte glaublich zu machen, ist jeder vollkommen hinreichend; weil alles Schlechte leicht Glauben findet, sollte es zu Zeiten auch unglaublich sein. Das Meiste und Beste, was wir haben, hängt von der Meinung anderer ab. Einige begnügen sich damit, daß sie das Recht auf ihrer Seite haben: das ist aber nicht, hinreichend; man muß ihm durch Bemühungen nachhelfen. Jemanden zu verbinden, kostet oft wenig und hilft viel. Mit Worten erkauft man Taten. In diesem großen Hause der Welt ist kein so unwürdiges Gerät, daß man es nicht wenigstens einmal im Jahr nötig hätte, und dann wird man, so wenig es auch wert sein möge, es sehr vermissen. Jeder redet von einem Gegenstand gemäß seiner Neigung.

227
Nicht dem ersten Eindruck nachgeben!

Einige vermählen sich gleichsam mit dem ersten Bericht, der ihnen zu Ohren kommt, so daß alle folgenden nur noch Konkubinen werden können. Da nun aber die Lüge allzeit vorauseilt, so findet nachher die Wahrheit keinen Raum. Weder darf unseren Willen der erste Gegenstand, noch unseren Verstand der erste Bericht einnehmen, das wäre Geisteskleinheit. Manche sind wie neue Gefäße, welche von der ersten Flüssigkeit, sei sie gut oder schlecht, den Geruch behalten. Wird diese Kleinheit des Geistes nun gar bekannt, so ist sie verhängnisvoll, denn jetzt wird sie zum Ziel boshafter Absichtlichkeit. Schlechtgesinnte beeilen sich, den Leichtgläubigen mit ihrer Farbe zu erfüllen. Immer soll Raum bleiben für eine zweite Untersuchung. Alexander bewahrte stets ein Ohr für die andere Partei auf. Es bleibe Raum für den zweiten und auch für den dritten Bericht. Das leichte Annehmen des Eindrucks zeugt von geringer Urteilsfähigkeit und ist nicht fern von der Leidenschaftlichkeit.

228
Kein Lästermaul sein,

noch weniger dafür gelten, denn das heißt, den Ruf eines Rufverderbers haben. Man sei nicht witzig auf fremde Kosten, was weniger schwer als verhaßt ist. Alle rächen sich an einem solchen dadurch, daß auch sie schlecht von ihm reden. Da nun aber ihrer viele sind und er allein, so wird er eher überwunden als sie überführt sein. Das Schlechte soll nie unsere Freude und daher nie unser Thema sein. Der Verleumder bleibt ewig verhaßt. Sollte auch dann und wann ein Großer mit ihm reden, so wird es mehr geschehen, weil ihm sein Spott Spaß macht, als weil er seine Klugheit schätzt. Auch wird, wer Schlechtes spricht, stets noch Schlechteres hören müssen.

229
Sein Leben verständig einzuteilen verstehn;

nicht wie es die Gelegenheit bringt, sondern mit Vorhersicht und Auswahl. Ohne Erholungen ist es mühselig, wie eine lange Reise ohne Gasthöfe: mannigfaltige Kenntnisse machen es genußreich. Die erste Tagereise des schönen Lebens verwende man zur Unterhaltung mit den Toten: wir leben, um zu erkennen und um uns selbst zu erkennen; also machen wahrhafte Bücher uns zu Menschen. Die zweite Tagereise bringe man mit den Lebenden zu, indem man alles Gute auf der Welt sieht und anmerkt. In einem Lande ist nicht alles zu finden, der Vater der Welt hat seine Gaben verteilt, und bisweilen gerade die Häßliche am reichsten ausgestattet. Die dritte Tagereise hindurch gehöre man ganz sich selber an: das letzte Glück ist zu philosophieren.

230
Die Augen beizeiten öffnen

Nicht alle, welche sehen, haben die Augen offen, und nicht alle, welche um sich blicken, sehen. Zu spät hinter die Sache kommen, dient nicht zur Abhilfe, wohl aber zur Betrübnis. Einige fangen erst an zu sehen, wenn nichts mehr zu sehen da ist, indem sie Haus und Hof zugrunde richteten, ehe sie selbst zu Menschen wurden. Es ist schwer, dem Verstand beizubringen, der keinen Willen hat, und noch schwerer dem Willen, der keinen Verstand besitzt. Die sie umgeben, spielen mit ihnen wie mit Blinden, zum Gelächter der übrigen; und weil sie taub zum Hören sind, öffnen sie auch nicht die Augen zum Sehen. Auch fehlt es nicht an solchen, welche jenen Sinnenschlummer unterhalten, weil ihre Existenz darauf beruht, daß jene nicht seien. Unglückliches Pferd, dessen Herr keine Augen hat! Es wird schwerlich fett werden.

231
Nie seine Sachen sehen lassen, wenn sie erst halb fertig sind;

in ihrer Vollendung wollen sie genosssen sein. Alle Anfänge sind ungestalt, und später bleibt diese Mißgestalt in der Einbildungskraft zurück. Die Erinnerung, etwas im Zustande der Unvollkommenheit gesehen zu haben, verdirbt dessen Genuß, wenn es vollendet ist. Einen großen Gegenstand im ganzen zu genießen, läßt zwar ein Urteil über einzelne Teile nicht zu, ist aber doch allein dem Geschmack angemessen. Ehe eine Sache alles ist, ist sie nichts; und während sie zu sein anfängt, steckt sie noch tief in jenem, ihrem Nichts. Die köstlichste Speise zubereiten zu sehen, erregt mehr Ekel als Appetit. Deshalb verhüte jeder große Meister, daß man seine Werke im Embryonenzustand sehe. Von der Natur selbst nehme er die Lehre an, sie nicht eher ans Licht zu bringen, als bis sie sich sehen lassen können.

232
Einen ganz kleinen kaufmännischen Anstrich haben

Nicht alles sei Beschaulichkeit, auch Handlung muß dabei sein. Sehr weise Leute sind meistens leicht zu betrügen. Obgleich sie das Außerordentliche wissen, sind sie doch mit dem Alltäglichen des Lebens unbekannt, was doch notwendiger ist. Die Betrachtung erhabener Dinge läßt ihnen für die des täglichen Lebens keine Zeit. Da sie um das Wichtigste, was sie wissen sollten, und was allen genau bekannt ist, nicht wissen, so werden sie entweder bewundert oder von der oberflächlichen Menge für unwissend gehalten. Daher trage der kluge Mann Sorge, etwas vom Kaufmann an sich zu haben, gerade so viel, wie hinreicht, um nicht betrogen und ausgelacht zu werden. Er sei ein Mann auch für's tägliche Tun und Treiben, was zwar nicht das Höchste, wohl aber das Notwendigste im Leben ist. Wozu dient das Wissen, wenn es nicht praktisch ist? Zu leben verstehen ist heutzutage das wahre Wissen.

233
Den fremden Geschmack nicht verfehlen,

sonst macht man ihm, statt eines Vergnügens, einen Verdruß. Einige erregen, indem sie eine Verbindlichkeit erzeigen wollen, Mißfallen, weil sie die verschiedenen Sinnesarten nicht begreifen. Manches ist dem einen eine Schmeichelei, dem andern eine Kränkung; und maches, was eine Artigkeit sein sollte, war eine Beleidigung. Oft hat es mehr gekostet, jemandem Mißvergnügen zu bereiten, als es gekostet haben würde, ihm Vergnügen zu machen: man verliert alsdann den Dank und das Geschenk, weil man den Leitstern zum fremden Wohlgefallen verloren hatte. Wer den Sinn des anderen nicht kennt, wird ihn schwerlich befriedigen. Daher kam es auch, daß mancher ein Lob zu äußern vermeinte und einen Tadel aussprach, zu seiner wohlverdienten Strafe. Andere wieder glauben durch ihre Beredsamkeit zu unterhalten und martern den Geist durch ihre Geschwätzigkeit.

234
Nie die Ehre einem in die Hand geben, ohne die seinige zum Unterpfand zu haben

Man muß so gehen, daß der beiderseitige Vorteil im Schweigen, der Schaden in der Mitteilung liege. Wo die Ehre im Spiel ist, muß stets der Handel ganz gemeinschaftlich sein, so daß jeder von beiden für die Ehre des anderen, seiner eigenen Ehre wegen, Sorge tragen muß. Nie soll man die Ehre dem anderen anvertrauen; geschieht es dennoch einmal, so geschehe es so wohlüberlegt, daß hier wirklich die Klugheit der Vorsicht weichen konnte. Die Gefahr sei gemeinsam und der Fall gegenseitig, damit nicht etwa der zu einem Zeugen werde, der sich bewußt ist, Teilhaber zu sein.

235
Zu bitten verstehen:

bei einigen ist nichts schwerer, bei anderen nichts leichter. Es gibt Leute, die nichts abzuschlagen imstande sind; bei solchen ist kein Dietrich vonnöten. Allein es gibt andere, deren erstes Wort zu allen Stunden Nein ist; bei diesen bedarf es der Geschicklichkeit, bei allen aber der gelegenen Zeit. Man überrasche sie bei fröhlicher Laune, wenn die vorhergegangene Mahlzeit des Leibes oder Geistes sie aufgeheitert hat; nur daß nicht etwa schon ihre kluge Vorhersicht der Schlauheit des Versuchenden zuvorgekommen sei. Die Tage der Freude sind die der Gunst, da jene aus dem Inneren ins Äußere überströmt. Man trete nicht heran, wenn man eben einen anderen abgewiesen sah, denn nun ist die Scheu vor dem Nein schon abgeworfen. Nach traurigen Ereignissen ist keine gute Gelegenheit. Den anderen zum voraus verbinden, ist ein Austausch, falls man es nicht mit gemeinen Seelen zu tun hat.

236
Eine vorhergängige Verpflichtung aus dem machen, was nachher Lohn gewesen wäre

Dies ist eine Geschicklichkeit sehr kluger Köpfe; die Gunst, vor dem Verdienst erzeigt, beweist einen Mann, der Gefühl für Verpflichtungen hat. Die so zum voraus erwiesene Gunst hat zwei Vorzüge: die Schnelligkeit des Gebers verpflichtet den Empfänger um so stärker, und dieselbe Gabe, welche nachmals Schuldigkeit wäre, wird, im voraus erteilt, zur Verbindlichkeit des anderen. Dies ist eine sehr feine Weise, Verpflichtungen zu vertauschen: die Verpflichtung des ersteren zum Belohnen verwandelt sich jetzt in die Verpflichtung des Verbundenen zum Leisten. Jedoch gilt dies nur für Leute, die ein Gefühl für Verpflichtungen haben; für niedrige Gemüter ist ein im voraus erteilter Ehrensold mehr ein Zaum als ein Sporn.

237
Nie um die Geheimnisse der Höheren wissen

Man glaubt Kirschen mit ihnen zu essen, wird aber nur die Steine erhalten. Vielen gereichte es zum Verderben, daß sie Vertraute waren: sie gleichen einem Löffel aus Brot und laufen nachher dieselbe Gefahr wie dieser. Die Mitteilung eines Geheimnisses von seiten des Fürsten ist keine Gunst, sondern ein Drang des Herzens. Schon viele zerbrachen den Spiegel, weil er sie an ihre Häßlichkeit erinnerte. Wir mögen den nicht sehn, der uns hat sehn können; und der ist nicht gern gesehn, der etwas Schlechtes von uns sah. Keiner darf uns gar zu sehr verpflichtet sein, am wenigsten ein Mächtiger; und wenn, dann durch etwas Gutes, das wir ihm erzeigt. Besonders gefährlich sind freundschaftlich anvertraute Heimlichkeiten. Wer dem anderen sein Geheimnis mitteilt, macht sich zu dessen Sklaven; einem Fürsten ist dies ein Zustand, der nicht dauern kann: er wird seine verlorene Freiheit wiedererlangen wollen, und um das zu erreichen, wird er alles mit Füßen treten, selbst Recht und Vernunft. Also: Geheimnisse soll man weder hören noch sagen.

238
Wissen, welche Eigenschaft uns fehlt

Viele waren ganze Leute, wenn ihnen nicht etwas abginge, ohne welches sie nie zum Gipfel der Vollkommenheit gelangen können. An einigen ist bemerkbar, daß sie sehr viel sein könnten, besserten sie sich in einer Kleinigkeit; so etwa fehlt es ihnen an Ernst, was große Fähigkeiten verdunkeln kann. Anderen geht die Freundlichkeit des Wesens ab, eine Eigenschaft, welche ihre nächste Umgebung vor allem dann vermissen wird, wenn sie Leute in einem Amt sind. Anderen wieder fehlt es an Tatkraft, den dritten an Mäßigung. Allen diesen Übelständen würde leicht abzuhelfen sein, wenn man sie nur selbst bemerkte. Sorgfalt kann aus der Gewohnheit eine zweite Natur machen.

239
Nicht spitzfindig sein, sondern klug:

das ist mehr. Wer mehr weiß, als erforderlich ist, gleicht einer zu feinen Spitze, dergleichen gewöhnlich abbricht. Ausgemachte Wahrheit gibt mehr Sicherheit. Es ist gut, Verstand zu haben, aber nicht, ein Schwätzer zu sein. Weitläufige Erörterungen sind schon dem Streite verwandt. Besser ist ein guter, solider Kopf, der nicht mehr denkt, als die Sache mit sich bringt.

240
Von der Dummheit Gebrauch zu machen verstehen

Der größte Weise spielt zuweilen diese Karte aus, und es gibt Gelegenheiten, wo das beste Wissen darin besteht, daß man nicht zu wissen scheine. Man soll nicht unwissend sein, aber es zu sein vorgeben. Bei den Dummen weise und bei den Narren gescheit sein, wird wenig helfen. Man rede also zu jedem seine Sprache. Nicht der ist dumm, der Dummheit affektiert, sondern der, welcher an ihr leidet. Die aufrichtige, nicht die falsche Dummheit ist die wirkliche. Das einzige Mittel, beliebt zu sein, ist, daß man sich mit der Haut des einfältigsten aller Tiere bekleide.

241
Neckereien dulden, jedoch nicht ausüben

Jenes ist eine Art Höflichkeit, dieses kann in Verwickelungen bringen. Die kühne Neckerei ist ergötzlich; sie ertragen zu können, beweist, daß man Kopf hat. Wer sich darüber gereizt zeigt, gibt Anlaß, daß der andere ebenfalls gereizt werde. Das beste ist also, sich der Neckerei nicht anzunehmen, und das sicherste, sie nicht einmal zu bemerken. Stets sind die ernstlichsten Händel aus Scherzen hervorgegangen. Es gibt daher nichts, was mehr Aufmerksamkeit und Geschicklichkeit erforderte: ehe man zu scherzen anfängt, sollte man schon wissen, bis zu welchem Punkte die Gemütsart dessen, den es betrifft, es dulden wird.

242
Den günstigen Erfolg weiter führen

Einige verwenden alle ihre Kraft auf den Anfang und vollenden nichts. Sie erfinden, aber führen nicht aus. Dies ist Wankelmut des Geistes. Auch erlangen sie keinen Ruhm, weil sie nichts verfolgen, sondern alles ins Stocken geraten lassen. Geduldige werden mit den Dingen fertig; mit Ungeduldigen die Dinge. Bis die Schwierigkeit überwunden ist, verwenden manche allen Schweiß darauf, sind aber dann mit ihrem Siege zufrieden und verstehn nicht, ihn zu Ende zu führen: sie beweisen, daß sie es könnten, aber nicht wollen: dies liegt denn aber doch am Unvermögen oder am Leichtsinn. Ist das Unternehmen gut, warum wird es nicht vollendet? Ist es schlecht, warum ward es angefangen? Der Kluge erlege sein Wild und begnüge sich nicht, es aufgejagt zu haben.

243
Nicht gänzlich eine Taubennatur haben,

sondern schlau sein wie die Schlange und ohne Falsch wie die Taube. Nichts ist leichter, als einen redlichen Mann zu hintergehen. Viel glaubt, wer nie lügt, und viel traut, wer nie täuscht. Es entspringt nicht allemal der Dummheit, daß man betrogen wird, sondern bisweilen der Güte. Zwei Arten von Leuten wissen sich gut vor Schaden zu hüten: die Erfahrenen, gar sehr auf ihre Kosten; und die Verschmitzten, gar sehr auf fremde. Die Klugheit gehe so weit im Argwohn wie die Verschmitztheit im Fallenstellen, und keine wolle in dem Maße redlich sein, daß er den anderen Gelegenheit gebe, unredlich zu sein. Man vereinige in sich die Taube und die Schlange - nicht als ein Mißwachs, sondern vielmehr als ein Wunder.

244
Zu verpflichten verstehen

Manche verwandeln ihre eigene Verpflichtung in die des anderen und verstehen, den Anschein zu erwecken, als erwiesen sie eine Gunst, während sie eine empfangen. Aus ihrem eigenen Vorteil machen sie eine Ehre für den anderen, und lenken die Dinge so geschickt, daß es aussieht, als leisteten sie dem anderen einen Dienst, indem sie sich von ihm beschenken lassen. Mit dieser sonderbaren Schlauheit versetzen sie die Ordnung der Verbindlichkeiten oder machen es wenigstens zweifelhaft, wer dem anderen eine Gunst erweist. Das Schönste und Beste kaufen sie für bloße Lobeserhebungen, und aus dem Wohlgefallen, das sie an einer Sache äußern, machen sie eine schmeichelhafte Ehre. So legen sie der Höflichkeit Verpflichtungen auf und machen eine Schuldigkeit aus dem, wofür sie sehr dankbar sein sollten. Dergestalt verwandeln sie das Passive der Verbindlichkeit in das Aktive, worin sie bessere Politiker als Grammatiker sind. Das ist eine große Feinheit. Eine größere aber wäre, das Ding zu verstehen und solchen Narrenhandel wieder rückgängig zu machen, indem man ihnen ihre erzeigte Ehre wieder zustellt und dafür seinerseits auch wieder zu dem Seinigen gelangt.

245
Originelle und vom Gewöhnlichen abweichende Gedanken äußern,

ist das Zeichen eines überlegenen Geistes. Wir dürfen den nicht schätzen, der uns nie widerspricht; denn dadurch zeigt er keine Liebe zu uns, vielmehr zu sich. Man lasse sich nicht durch Schmeichelei täuschen und zahle für dieselbe, sondern man verwerfe sie. Auch rechne man es sich zur Ehre, von einigen getadelt zu werden, zumal von solchen, die von allen Trefflichen schlecht reden. Hingegen soll es uns betrüben, wenn unsere Sachen allen gefallen. Es ist ein Zeichen, daß sie nichts taugen, denn das Vortreffliche ist für Wenige.

246
Nie dem Rechenschaft geben, der sie nicht gefordert hat;

und selbst wenn sie gefordert wird, ist es eine Art Vergehn, darin mehr als nötig zu tun. Sich ohne Anlaß entschuldigen, heißt sich anklagen; sich bei voller Gesundheit zur Ader lassen, heißt dem Übel oder der Bosheit ohne Grund entgegenkommen. Eine Entschuldigung weckt das schlafende Mißtrauen. Auch soll der Kluge einen fremden Verdacht nicht zu merken scheinen, denn das hieße die Beleidigung aufsuchen; sondern er soll denselben alsdann durch die Redlichkeit seines Tuns widerlegen.

247
Etwas mehr wissen und etwas weniger leben

Andere sagen es umgekehrt. Gute Muße ist besser als Geschäfte. Nichts gehört uns als nur die Zeit, in welcher selbst der lebt, der keine Wohnung hat. Es ist gleich unsinnig, sein kostbares Leben mit mechanischen Arbeiten wie mit einem Übermaß erhabener Beschäftigung hinzubringen. Man überhäufe sich nicht mit Geschäften und mit Neid, sonst stürzt man sein Leben hinunter und erstickt den Geist. Einige wollen dies auch auf das Wissen ausdehnen: aber wer nichts weiß, der lebt auch nicht.

248
Der Letzte behalte bei uns nicht allemal recht

Es gibt "Leute des letzten Berichts". Ihr Denken und Wollen ist von Wachs, der letzte drückt sein Siegel auf und verwischt die früheren. Diese sind nie gewonnen, weil man sie ebenso leicht wieder verliert. Jeder färbt sie mit seiner Farbe. Zu Vertrauten taugen sie nicht, und ihr ganzes Leben lang bleiben sie Kinder. Zwischen diesem Wechsel des Meinens und Wollens hin und her geworfen, hinken sie stets am Willen und am Verstande und wanken von der einen zur anderen Seite.

249
Nicht sein Leben mit dem anfangen, womit man es zu beschließen hätte

Manche nehmen die Erholung am Anfang und lassen die Mühe für das Ende zurück. Erst komme das Wesentliche, nachher, wenn Raum ist, das Nebensächliche. Andere wollen triumphieren, ehe sie gekämpft haben. Wieder andere fangen damit an, das zu lernen, woran wenig gelegen ist, und schieben die Studien, von welchen sie Ehre und Nutzen erhoffen, für das Ende ihres Lebens auf. Jener hat noch nicht einmal angefangen, sein Glück zu machen, und schon schwindelt ihm vor Dünkel der Kopf. Methode ist unerläßlich zum Wissen und zum Leben.

250
Wann hat man die Gedanken auf den Kopf zu stellen?

Wann verschmitzte Tücke redet. Bei einigen muß alles umgekehrt verstanden werden: ihr Ja ist Nein, und ihr Nein Ja. Reden sie von einer Sache nachteilig, so bedeutet dies, daß sie diese hochschätzen; wer sie für sich haben will, setzt sie bei andern herab. Nicht jeder, der lobt, redet gut von der Sache; manche werden, um die Guten nicht zu loben, auch die Schlechten loben: für wen aber keiner schlecht ist, für den ist auch keiner gut.

251
Man wende die menschlichen Mittel an, als ob es keine göttlichen, und die göttlichen, als ob es keine menschlichen gäbe

Große Meisterregel, die keines Kommentars bedarf.

252
Weder ganz sich, noch ganz anderen angehören:

denn beides ist Tyrannei. Daraus, daß einer sich ganz für sich allein besitzen will, folgt alsbald, daß er auch alle Dinge für sich haben will. Solche Leute wollen nicht in der geringsten Sache nachgeben, noch das mindeste von ihrer Bequemlichkeit opfern. Sie sind nicht verbindlich, sondern verlassen sich auf ihre Glücksumstände, welche Stütze jedoch unter ihnen zu brechen pflegt. Man muß bisweilen auch den andern angehören, damit sie wieder uns angehören. Wer aber ein öffentliches Amt hat, muß der öffentliche Sklave sein, oder er lege die Würde mit der Bürde nieder. Als Kaiser Hadrian eine alte Frau mit den Worten abwies, "er habe keine Zeit", rief ihm diese zu: "So sei kein Kaiser!" Demgegenüber gibt es auch Leute, welche ganz den anderen angehören, denn die Torheit geht stets ins Übertriebene. Diese habe keinen Tag und keine Stunde für sich, sondern gehören in solchem Übermaß den anderen an, daß manch einer schon der Diener aller genannt wurde. Dies erstreckt sich sogar auf den Verstand: sie wissen für alle, nur nicht für sich. Der Aufmerksame begreife, daß keiner ihn sucht, sondern jeder seinen Vorteil in ihm und durch ihn.

253
Keinen allzu deutlichen Vortrag haben

Die meisten schätzen nicht, was sie verstehen, aber was sie nicht fassen können, das verehren sie. Um geschätzt zu werden, müssen die Sachen Mühe kosten, daher wird gerühmt, wer nicht verstanden wird. Stets muß man weiser und klüger scheinen, als gerade der, mit dem man zu tun hat, es nötig macht, um ihm eine hohe Meinung einzuflößen. Jedoch nicht übertrieben, sondern verhältnismäßig! Und obgleich bei Leuten von Einsicht Sinn und Verstand allemal viel gelten, so ist doch bei den meisten Leuten einiger Aufputz vonnöten. Zum Tadeln dürfen sie gar nicht kommen, indem sie schon mit dem Verstehen genug zu tun haben. Viele loben etwas; fragt man sie warum, dann wissen sie keinen Grund. Woher dies! Alles Tiefverborgene verehren sie als Mysterium und rühmen es, weil sie es rühmen hören.

254
Ein Übel nicht gering achten, weil es klein ist,

denn nie kommt eines allein. Übel sind ebenso verkettet wie Glücksfälle. Glück und Unglück gehen gewöhnlich dahin, wo schon das meiste ist. Dazu kommt, daß alle den Unglücklichen fliehen und sich dem Glücklichen anschließen; sogar die Tauben, bei aller ihrer Arglosigkeit, laufen nach dem weißesten Gerät. Einen Unglücklichen läßt alles im Stich, er sich selbst, die Gedanken, der Leitstern. Man wecke nicht das Unglück, wenn es schläft. Ein Ausgleiten ist wenig: jedoch kann dieses unglückliche Fallen sich noch fortsetzen, und da weiß man nicht, wohin es endlich führen wird. Denn wie kein Gut in jeder Hinsicht vollständig ist, so ist auch kein Übel je gänzlich vollendet. Für die, so vom Himmel kommen, ist uns die Geduld, für die, so von der Erde, die Klugheit verliehen.

255
Gutes zu erzeigen verstehn:

wenig auf einmal, hingegen oft. Nie muß man dem anderen so große Verbindlichkeiten auflegen, daß es unmöglich wäre, ihnen nachzukommen. Wer sehr vieles gibt, gibt nicht, sondern verkauft. Auch soll man nicht die vollständige Erkenntlichkeit verlangen; denn wenn der andere sieht, daß sie seine Kräfte übersteigt, wird er den Umgang abbrechen. Bei vielen ist, um sie zu verlieren, nichts weiter nötig, als sie übermäßig zu verpflichten; um ihre Schuld nicht abzutragen, ziehn sie sich zurück und werden aus Verpflichteten Feinde. Der Götze möchte nie den Bildhauer, der ihn gemacht hat, vor sich sehn; ebenso ungern hat der Verpflichtete seinen Wohltäter vor Augen. Der Takt beim Geben besteht darin, daß es wenig koste und doch sehr ersehnt sei, wodurch es hoch angeschlagen wird.

256
Allezeit auf seiner Hut sein gegen Unhöfliche, Eigensinnige, Anmaßliche und Narren jeder Art

Man stößt auf viele, und die Klugheit besteht darin, nicht mit ihnen aneinander zu geraten. Vor dem Spiegel einer Überlegung wappne man sich jeden Tag mit Vorsätzen in dieser Hinsicht, dann wird man die Gefahren, welche die Narrheit uns in den Weg legt, überwinden. Man denke reiflich darüber nach, dann wird man sein Ansehen nicht gemeinen Zufälligkeiten bloßstellen. Ein mit Klugheit ausgerüsteter Mann wird von Ungebührlichen nicht angefochten werden. Unser Weg im Umgang mit Menschen ist deshalb schwierig, weil er voll Klippen ist, an denen unser Ansehen scheitern kann. Am sichersten ist, sich abseits zu halten, die Schlauheit des Odysseus zum Vorbild nehmend. Von großem Nutzen in Dingen dieser Art ist das taktvolle Übersehen. Von der Höflichkeit unterstützt, hilft es uns über alles hinweg und ist der einzige Richtweg aus vielen Verwicklungen.

257
Es nie zum Bruche kommen lassen,

denn dabei kommt unser Ansehen allemal zu Schaden. Jeder ist als Feind von Bedeutung, wenngleich nicht als Freund. Gutes können uns wenige erweisen, Schlimmes fast alle. Mit der Klaue des erklärten Feindes schüren die Heimlichen das Feuer an, da sie nur auf die Gelegenheit gewartet hatten. Aus verdorbenen Freunden werden die schlimmsten Feinde. Mit den fremden Fehlern wollen sie in den Augen der Zuschauer ihre eigenen verdecken. Jeder redet, wie es ihm scheint, und es scheint ihm, wie er es wünscht. Alle sprechen uns schuldig, entweder weil es uns am Anfang an Vorhersicht oder am Ende an Geduld, immer aber, weil es uns an Klugheit gefehlt habe. Ist jedoch eine Entfernung nicht zu vermeiden, so sei sie zu entschuldigen und sei eher eine Lauheit der Freundschaft als ein Ausbruch der Wut. Hier findet der bekannte Satz von einem "schönen Ruckzug" treffende Anwendung.

258
Man suche sich jemanden, der das Unglück tragen hilft

So wird man nie, zumal nicht bei Gefahren, allein sein, und nicht alle Ungunst auf sich laden. Einige vermeinen, die ganze Ehre der oberen Leitung allein davon zu tragen, und tragen nachher die ganze öffentliche Unzufriedenheit davon. Auf die andere Art hingegen hat man jemanden, von dem man entschuldigt wird, oder der das Schlimme tragen hilft. Weder das Geschick noch der große Haufen wagen sich so leicht an zwei; deshalb auch der schlaue Arzt, wenn er die Kur verfehlt hat, doch nicht verfehlt, sich einen anderen zu suchen, der, unter dem Namen einer Konsultation, ihm hilft, den Sarg hinauszuschaffen. Man teile mit einem Gefährten Bürden und Betrübnisse, denn dem, der allein steht, ist das Unglück doppelt unerträglich.

259
Beleidigungen zuvorkommen und sie in Artigkeiten verwandeln:

es ist schlauer, sie zu vermeiden, als sie zu rächen. Eine ungemeine Geschicklichkeit ist es, einen Vertrauten aus dem zu machen, der ein Nebenbuhler werden sollte, oder Schutzwehren seiner Ehre aus denen, welche Angriffe auf dieselbe drohten. Viel tut hierzu, daß man Verbindlichkeiten zu erzeigen wisse: denn schon die Zeit zu Beleidigungen nimmt der weg, welcher veranlaßt, daß Danksagungen sie ausfüllen. Das heißt zu leben wissen, wenn man das, was Verdruß werden sollte, zu Annehmlichkeiten umschafft. Aus dem Mißwollen selbst mache man einen vertraulichen Umgang.

260
Keinem werden wir, und keiner wird uns ganz angehören,

dazu ist weder Verwandtschaft, noch Freundschaft, noch die dringendste Verbindlichkeit hinreichend. Sein ganzes Zutrauen oder seine Neigung schenken, das sind zwei verschiedene Dinge. Auch die engste Verbindung läßt immer noch Ausnahmen zu, ohne daß deswegen die Gesetze der Freundschaft verletzt wären. Immer behält sich der Freund irgendein Geheimnis vor und in irgend etwas verbirgt sogar der Sohn sich vor dem Vater. Gewisse Dinge verhehlt man dem einen und teilt sie dem anderen mit, und umgekehrt. So gelangt man dahin, daß man alles mitteilt und alles zurückbehält, nur stets mit Unterschied der entsprechenden Personen.

261
Nicht seine Torheiten fortsetzen

Manche machen aus einem mißlungenen Unternehmen eine Verpflichtung. Wenn sie einen Irrweg eingeschlagen haben, meinen sie, es sei Charakterstärke, darauf weiterzugehen. Innerlich beklagen sie ihren Irrtum, aber äußerlich entschuldigen sie ihn. So geschieht es, daß, wenn sie bei Beginn einer Torheit als unüberlegt getadelt wurden, bei deren Ende als Narren gelten. Weder ein unüberlegtes Versprechen noch ein irriger Entschluß legen Verbindlichkeit auf. Allein auf jene Weise setzen einige als beharrliche Querköpfe ihre Tölpeleien fort.

262
Vergessen können:

es ist mehr ein Talent als eine Kunst. Der Dinge, die am ehesten vergessen werden sollten, erinnern wir uns am besten. Das Gedächtnis ist nicht allein widerspenstig, indem es uns verläßt, wann wir es am meisten brauchen, sondern auch töricht, indem es herangelaufen kommt, wenn es sich gar nicht paßt. In allem, was uns Pein verursacht, ist es ausführlich, aber nachlässig in dem, was uns ergötzen könnte. Oft besteht das einzige Heilmittel unserer Schmerzen im Vergessen; aber wir vergessen das Heilmittel. Man muß seinem Gedächtnis bequeme Gewohnheiten beibringen, das reicht hin, Seligkeit oder Hölle zu verschaffen. Auszunehmen sind hier die Zufriedenen, welche im Stande ihrer Unschuld ihre einfältige Glückseligkeit genießen.

263
Manche Dinge muß man nicht eigentlich besitzen

Man genießt solche besser als fremde denn als eigene: ihr Gutes ist den ersten Tag für den Besitzer, alle folgenden für die anderen. Fremde Sachen genießt man doppelt, nämlich ohne die Sorge wegen der Beschäftigung, und außerdem mit dem Reiz der Neuheit. Alles schmeckt besser nach dem Entbehren: sogar das fremde Wasser scheint Nektar. Der Besitz der Dinge vermindert nicht nur unseren Genuß, sondern er vermehrt auch unseren Verdruß, sowohl beim Ausleihen wie beim Nichtausleihen: man hat nichts davon, als daß man die Sachen für andere unterhält, wobei man sich mehr Feinde macht als Erkenntliche.

264
Keine Tage der Nachlässigkeit haben

Das Schicksal gefällt sich darin, uns einen Possen zu spielen, und wird alle Zufälle zu Haufen bringen, um uns unversehens zu fangen. Stets zur Probe bereit müssen der Kopf, die Klugheit und die Tapferkeit sein, sogar auch die Schönheit: denn der Tag ihres sorglosen Vertrauens wird der Sturz ihres Ansehns sein. Wenn die Aufmerksamkeit am nötigsten ist, fehlt sie jedesmal: das Nichtdenken ist das Beinstellen zu unserm Verderben. Zudem pflegt es eine Kriegslist feindlicher Absichtlichkeit zu sein, daß sie die Vollkommenheiten, gerade wenn sie ahnungslos sind, zur strengen Prüfung ihres Wertes zieht. Die Tage der Parade kennt man schon, daher läßt die List sie vorübergehn; aber der Tag, da man es am wenigsten erwartete, wählt sie aus, um den Wert auf die Probe zu stellen.

265
Seine Untergebenen in die Notwendigkeit des Handelns zu versetzen verstehen

Eine durch die Umstände herbeigeführte Notwendigkeit zu handeln hat manche mit einemmal zu ganzen Leuten gemacht, wie die Gefahr zu ertrinken, Schwimmer. Auf diese Weise haben viele ihre eigene Tapferkeit, ja sogar ihre Kenntnis und Einsicht erst entdeckt, was sonst unter ihrem Kleinmut begraben geblieben wäre. Gefahren sind Gelegenheiten, sich einen Namen zu machen; sieht ein Edler seine Ehre auf dem Spiel, wird er für tausend wirksam sein. Obige Lebensregel verstand zum Beispiel Isabella die Katholische von Grund auf, und einer klugen Begünstigung solcher Art verdankt mancher große Feldherr seinen Ruf.

266
Nicht aus lauter Güte schlecht sein:

der ist es, der nie zürnt. Solch unempfindliche Menschen verdienen kaum, als Persönlichkeiten zu gelten. Nicht Trägheit beweist dies, sondern Unfähigkeit. Empfindlichkeit bei gehörigem Anlaß ist ein Akt der Persönlichkeit, über einen Strohmann machen sich sogar die Vögel lustig. Das Süße mit dem Sauern abwechseln lassen, beweist einen guten Geschmack. Das Süße ganz allein ist für Kinder und Narren. Es ist sehr übel, wenn man aus lauter Güte in solche Gefühllosigkeit versinkt.

267
Seidene Worte und freundliche Sanftmut

Pfeile durchbohren den Leib, böse Worte die Seele. Ein wohlriechender Teig verursacht einen angenehmen Atem. Es ist eine große Lebensklugheit, es zu verstehen, die Luft zu verkaufen. Das meiste wird mit Worten bezahlt, mit Worten kann man Unmöglichkeiten durchsetzen. So treibt man in der Luft Handel mit der Luft; und der königliche Atem vermag Mut und Kraft einzuflößen. Allezeit habe man den Mund voll Zucker, um seine Worte damit zu versüßen, so daß sie selbst dem Feinde wohlschmecken. Um liebenswürdig zu sein, ist das Hauptmittel friedfertig zu sein.

268
Der Kluge tut gleich anfangs, was der Dumme erst am Ende tut

Der eine und der andere tut dasselbe; nur in der Zeit liegt der Unterschied: jener tut es zur rechten, dieser zur unrechten. Wer sich einmal von Haus aus den Verstand verkehrt angezogen hat, fährt nun immer so fort: was er auf den Kopf setzen sollte, trägt er an den Füßen, aus dem Linken macht er das Rechte und ist in allem seinen Tun linkisch. Nur eine gute Art, auf den rechten Weg zu kommen, gibt es für ihn, wenn er nämlich gezwungen tut, was er hätte freiwillig tun können. Der Kluge dagegen sieht gleich, was früh oder spät geschehen muß: und da führt er es bereitwillig und mit Ehren aus.

269
Sich sein Neusein zunutze machen

Solange jemand noch neu ist, wird er geschätzt. Das Neue gefällt der Abwechslung wegen allgemein, der Geschmack erfrischt sich daran; eine funkelnagelneue Mittelmäßigkeit wird höher geschätzt als ein schon gewohnt Vortreffliches. Das Ausgezeichnete nutzt sich ab und wird allmählich alt. Jedoch soll man wissen, daß jene Glorie der Neuheit von kurzer Dauer sein wird; nach vier Tagen schon wird die Hochachtung sich verlieren. Deshalb verstehe man, sich diese Erstlinge der Wertschätzung zunutze zu machen, und ergreife auf dieser schnellen Flucht des Beifalls alles, wonach man füglich trachten kann. Denn ist einmal die Hitze der Neuheit vorüber, so kühlt sich die Leidenschaft ab. Dann muß die Begünstigung des Neuen gegen den Überdruß am Gewöhnlichen vertauscht werden, und man glaube nur, daß alles ebenso seine Zeit gehabt hat, welche vorüberging.

270
Was vielen gefällt, nicht allein verwerfen

Etwas Gutes muß daran sein, da es so vielen genügt, und läßt es sich auch nicht erklären, so wird es doch genossen. Absonderung macht stets mißliebig und, wenn irrtümlich, lächerlich. Man wird eher dem Ansehen seiner Auffassungsgabe als dem des Gegenstandes schaden, und dann bleibt man mit seinem schlechten Geschmack allein. Kann man das Gute nicht herausfinden, so verhehle man seine Unfähigkeit und verdamme die Sache nicht schlechthin. Gewöhnlich entspringt der schlechte Geschmack aus Unwissenheit. Was alle sagen, ist - oder will zumindest sein.

271
In jedem Fache halte sich, wer wenig weiß, stets an das Sicherste:

wird er dann auch nicht für fein, so doch für gründlich gelten. Wer hingegen unterrichtet ist, kann sich einlassen und nach Gutdünken handeln. Allein, wenig wissen und sich doch in Gefahr setzen, heißt freiwillig sein Verderben suchen, Vielmehr halte man sich immer zur rechten Hand: denn das Ausgemachte kann nicht fehlen. Für geringe Kenntnisse ist die Heerstraße: auf alle Falle, sei man kundig oder unkundig, ist die Sicherheit immer klüger als die Absonderung.

272
Die Sachen um den Höflichkeitspreis verkaufen:

dadurch verpflichtet man am meisten. Nie wird die Forderung des Interessierten der Gabe des edelmütigen Verpflichteten gleich kommen. Die Höflichkeit schenkt nicht, sondern legt eine Verpfiichtung auf, und edle Sitte ist die größte Verpflichtung. Für den rechtlichen Mann ist keine Sache teurer als die, welche man ihm schenkt: man verkauft sie ihm dadurch zweimal und für zwei Preise, den des Wertes und den der Höflichkeit. Inzwischen ist es wahr, daß für den Niedrigdenkenden die edle Sitte Kauderwelsch ist: denn er versteht die Sprache des guten Tones nicht.

273
Die Gemütsarten derer, mit denen man zu tun hat, begreifen:

um ihre Absichten zu ergründen. Denn ist die Ursache richtig erkannt, so ist es auch die Wirkung. Der Melancholische sieht stets Unglücksfälle, der Boshafte Verbrechen voraus; immer stellt sich ihnen das Schlimmste dar, und da sie des gegenwärtigen Guten nicht innewerden, so verkünden sie das mögliche Übel vorher. Der Leidenschaftliche redet stets eine fremde Sprache, die von dem, was die Dinge sind, abweicht. Aus ihm spricht eben die Leidenschaft und nicht die Vernunft. So redet jeder gemäß seinem Affekt oder seiner Laune, fernab von der Wahrheit. Man lerne ein Gesicht entziffern und aus den Zügen die Seele herausbuchstabieren. Man erkenne in dem, der immer lacht, einen Narren, in dem, der nie lacht, einen Falschen. Man hüte sich vor dem Frager, weil er leichtsinnig oder ein Späher ist. Wenig Gutes erwarte man von den Mißgestalteten, denn diese pflegen sich an der Natur zu rächen. Wie sie ihnen wenig Ehre erzeigte, so sie ihr keine. So groß wie die Schönheit eines Menschen pflegt dessen Dummheit zu sein.

274
Anziehungskraft besitzen:

sie ist der Zauber kluger Höflichkeit: Man benutze diesen Magnet seiner angenehmen Eigenschaften mehr zur Erwerbung der Zuneigung als wirklicher Vorteile, doch auch zu allem. Verdienste reichen nicht aus, wenn sie nicht von der Gunst unterstützt werden, welche es eigentlich ist, die den Beifall verleiht. Das wirksamste Werkzeug der Herrschaft über andere, das Im-Schwunge-sein, ist Sache des Glücks, doch läßt es sich durch Kunst fördern. Wo ausgezeichnete natürliche Anlagen sind, faßt das Künstliche besser Wurzel. Durch jenes nun gewinnt man die Herzen, und allmählich kommt man in den Besitz der allgemeinen Gunst.

275
Mitmachen, so weit es der Anstand erlaubt

Man mache sich nicht immer wichtig und widerwärtig: dies gehört zur guten Sitte. Etwas kann man sich von seiner Würde vergeben, um die allgemeine Zuneigung zu gewinnen: man lasse sich zuweilen das gefallen, was die meisten sich gefallen lassen, jedoch ohne Unanständigkeit. Wer öffentlich für einen Narren gilt, wird nicht im stillen für gescheit gehalten werden. An einem Tage der Lustigkeit kann man mehr verlieren, als man an allen Tagen der Ehrbarkeit gewonnen hat. Jedoch soll man sich auch nicht immer ausschließen, denn durch Absonderung verurteilt man die übrigen. Noch weniger darf man Ziererei affektieren; diese überlasse man dem Geschlecht, welchem sie eigen ist. Sogar die religiöse Ziererei ist lächerlich. Dem Mann steht nichts besser an, als daß er wie ein Mann auftrete; das Weib kann das Männliche als eine Vollkommenheit affektieren: umgekehrt wirkt man lächerlich.

276
Seinen Geist mit Hilfe der Natur und Kunst zu erneuern verstehn

Man sagt, daß von sieben zu sieben Jahren die Gemütsart sich ändere - nun, so sei es ein Verbessern und Veredeln seines Geschmacks. Nach den ersten sieben Jahren tritt die Vernunft ein: so möge nachher mit jedem Stufenjahr eine neue Vollkommenheit hinzukommen. Man beobachte diesen natürlichen Wechsel, um ihm nachzuhelfen, und hoffe auch an andern eine Verbesserung. So kommt es, daß viele mit dem Stande oder Amt ihr Betragen geändert haben. Bisweilen wird man es nicht eher gewahr, als bis es im höchsten Grad hervortritt. Mit zwanzig Jahren ist der Mensch ein Pfau; mit dreißig ein Löwe; mit vierzig ein Kamel; mit fünfzig eine Schlange; mit sechzig ein Hund; mit siebzig ein Affe; mit achtzig - nichts.

277
Zu prunken verstehen!

Es ist die Glanzbeleuchtung der Talente. Für jedes derselben kommt eine günstige Zeit; die benutze man, denn nicht jeder Tag ist ein Tag des Triumphs. Es gibt Prachtmenschen, in denen schon das Geringe sehr, das Bedeutende aber zum Erstaunen glänzt. Gesellt sich zu ausgezeichneten Gaben die Fähigkeit, damit zu prunken, so erlangen sie den Ruf eines Wunders. Erst das Licht ließ die Pracht der Schöpfung hervortreten. Das Prunken füllt vieles aus, ersetzt vieles und gibt allem ein zweites Dasein, zumal, wenn es sich auf wirklichem Gehalt stützt. Der Himmel, welcher die Vollkommenheit verleiht, versieht sie auch mit dem Hange zu prunken; jedes von beiden allein würde unpassend sein. Es gehört Kunst zum Prunken. Sogar das Vortrefflichste hängt von Umständen ab und hat nicht immer seinen Tag. Das Prunken gerät schlecht, wenn es zur Unzeit kommt. Mehr als jeder andere Vorzug muß es frei von Affektation sein, woran es allemal scheitert; weil es nahe an die Eitelkeit grenzt und dies an das Verächtliche. Es muß sehr gemäßigt sein, damit es nicht gemein werde, und sein Übermaß steht bei den Klugen schlecht angeschrieben. Bisweilen besteht es mehr in einer stummen Beredsamkeit, indem man gleichsam nur aus Nachlässigkeit seine Vollkommenheiten zum Vorschein kommen läßt; denn das kluge Verhehlen derselben ist das wirksamste Paradieren damit, da man eben durch solches Verbergen die Neugierde am lebhaftesten reizt. Sehr geschickt ist es auch, die ganze Vollkommenheit nicht mit einem Male aufzudecken, sondern nur einzelne Proben davon verstohlenen Blicken preiszugeben, und dann immer mehr. Jede glänzende Leistung muß das Unterpfand einer größeren sein, und im Beifall der ersten muß schon die Erwartung der folgenden liegen.

278
Abzeichen jeder Art vermeiden:

denn die Vorzüge selbst werden zu Fehlern, sobald sie als Bezeichnung dienen. Die Abzeichen entstehen aus Sonderbarkeit, welche stets getadelt wird: man läßt den Sonderling allein. Sogar die Schönheit, wenn sie überschwenglich wird, schadet unserm Ansehn; indem sie die Augen auf sich zieht, beleidigt sie; wie viel mehr werden Sonderbarkeiten, die schon an sich in schlechtem Ruf stehen, nachteilig wirken. Dennoch wollen einige sogar durch Laster allgemein bekannt sein und suchen in der Verworfenheit die Auszeichnung, um einer so ehrlosen Ehre teilhaft zu werden. Selbst in der Einsicht kann das Übermaß im Geschwätz ausarten.

279
Dem Widersprecher nicht widersprechen

Man muß unterscheiden, ob der Widerspruch aus List oder aus Gemeinheit entspringt. Es ist nicht immer Eigensinn, sondern bisweilen ein Kunstgriff. (Vergl. 213.) Dann sei man aufmerksam, sich im ersten Fall nicht in Verwicklungen, im anderen nicht ins Verderben ziehn zu lassen. Keine Sorgfalt ist besser angewandt als die gegen die Spione. Gegen die Dietriche der Seele ist die beste Gegenlist, den Schlüssel der Vorsicht inwendig stecken zu lassen.

280
Ein Biedermann sein

Mit dem redlichen Verfahren ist es zu Ende: Verpflichtungen werden nicht anerkannt: ein gegenseitiges lobenswertes Benehmen findet sich selten, vielmehr erhält der beste Dienst den schlimmsten Lohn; und so ist heutzutage der Brauch der ganzen Welt. Es gibt ganze Nationen, die zur Schlechtigkeit geneigt sind; bei der einen hat man stets Verrat, bei der anderen Unbestand, bei der dritten Betrug zu fürchten. Allein das schlechte Benehmen anderer sei für uns kein Gegenstand der Nachahmung, sondern der Vorsicht. Die Gefahr dabei ist, daß der Anblick jener nichtswürdigen Verfahrungsweise auch unsere Redlichkeit erschüttere. Aber der Biedermann vergißt nie über dem, was die anderen sind, wer er ist.

281
Gunst bei den Einsichtigen finden

Das zögernde Ja eines außerordentlichen Mannes ist höher zu schatzen als der allgemeine Beifall. Aus den Weisen spricht Einsicht, daher gibt ihr Lob unversiegbare Zufriedenheit. Plato nannte den Aristoteles seine ganze Schule. Manche sind nur darauf bedacht, sich den Magen zu füllen, und wäre es mit dem gemeinsten Kehricht. Sogar die Fürsten bedürfen der Schriftsteller und fürchten deren Feder mehr als häßliche Weiber den Pinsel.

282
Durch Abwesenheit seine Hochschätzung oder Verehrung fördern

Wie die Gegenwart den Ruhm vermindert, so vermehrt ihn die Abwesenheit. Wer abwesend für einen Riesen galt, entpuppte sich bei seiner Ankunft oft als ein lächerlicher Zwerg. Große Talente verlieren durch Berührung ihren Glanz, denn es ist leichter, die Rinde der Außenseite als den großen Gehalt des Geistes zu sehen. Die Einbildungskraft reicht weiter als das Gesicht, und die Täuschung, welche ihren Eingang gewöhnlich durch die Ohren findet, hat ihren Ausgang durch die Augen. Wer sich still im Mittelpunkt des Umkreises eines Rufes hält, wird sich in seinem Ansehen erhalten.

283
Die Gabe der Erfindung besitzen

Sie beweist das höchste Genie. Allein welches Genie kann ohne ein Gran Wahnsinn bestehn? Ist das Erfinden Sache der Genialen, so ist die treffende Wahl Sache der Verständigen. Auch ist jenes eine besondre Gabe des Himmels und viel seltener. Eine treffende Wahl ist vielen gelungen, eine gute Erfindung wenigen, und zwar nur den ersten, dem Wert und der Zeit nach. Die Neuheit schmeichelt, und war sie glücklich, so gibt sie dem Guten einen doppelten Glanz. In Sachen des Urteils ist die Neuheit wegen des Paradoxen gefährlich, in Sachen des Genies aber löblich: jedoch wenn gelungen, verdient die eine wie die andere Beifall.

284 Man sei nicht zudringlich;

so wird man nicht zurückgesetzt werden. Man setze selbst Wert auf sich, wenn die andern es sollen. Eher sei man karg als freigebig mit seiner Person. Ersehnt komme man an, dann wird man wohl empfangen werden. Nie komme man ungerufen und gehe nur, wenn man gesandt wird. Wer aus freien Stücken etwas unternimmt, wird, wenn es schlecht abläuft, den ganzen Unwillen auf sich laden; läuft es hingegen gut ab, weiß man es ihm doch nicht Dank. Der Zudringliche wird mit Geringschätzung und Wegwerfung aller Art überhauft. Weil er sich mit Unverschämtheit eindrängte, wird er mit Beschämung fortgeschickt.

285
Nicht an fremdem Unglück sterben

Man kenne den, welcher im Sumpfe steckt, und merke sich, daß er uns rufen wird, um sich nachher am beiderseitigen Unglück zu trösten. Solche Leute suchen jemanden, der ihnen helfe, ihr Leid zu tragen, und wem sie in ihrem Glück den Rücken wandten, dem reichen sie jetzt die Hand. Großer Vorsicht bedarf es bei denen, die zu ertrinken im Begriffe sind, um ihnen ohne eigene Gefahr Hilfe leisten zu können.

286
Man sei niemandem für alles, auch nie allen verbindlich gemacht,

sonst wird man zum Sklaven oder gar zum Sklaven aller. Einige werden unter glücklicheren Umständen geboren als andere: jene, um Gutes zu tun, diese, um es zu empfangen. Die Freiheit ist viel köstlicher als das Geschenk, wofür man sie hingibt. Man soll weniger Wert darauf legen, viele von sich, als darauf, sich selbst von keinem abhängig zu sehen. Der einzige Vorzug des Herrschens ist, daß man mehr Gutes erweisen kann. Besonders halte man die Verbindlichkeit, die einem auferlegt wird, nicht für eine Gunst, denn meistens wird fremde List es darauf abgesehen haben, daß man ihrer bedurfte.

287
Nie handle man in leidenschaftlichem Zustand,

sonst wird man alles verderben. Der kann nicht für sich handeln, der nicht bei sich ist; stets verbannt die Leidenschaft die Vernunft. In solchen Fallen lasse man für sich einen vernünftigen Vermittler eintreten, und das wird jeder sein, der ohne Leidenschaft ist. Stets sehen die Zuschauer mehr als die Spieler, weil sie leidenschaftslos sind. Sobald man merkt, daß man außer Fassung gerät, blase die Klugheit zum Rückzuge. Denn kaum wird das Blut sich vollends erhitzt haben, so wird man blutig zu Werke gehen, und gibt in wenigen Augenblicken auf lange Zeit Stoff sich selbst zur Beschämung, den anderen zur Verleumdung.

288
Nach der Gelegenheit leben

Unser Handeln, unser Denken, alles muß sich nach den Umständen richten. Man wolle, wenn man kann, denn Zeit und Gelegenheit warten auf niemanden. Man lebe nicht nach ein für allemal gefaßten Vorsätzen, es sei denn zugunsten der Tugend, noch schreibe man dem Willen bestimmte Gesetze vor: denn morgen wird man das Wasser trinken müssen, welches man heute verschmähte. Es gibt so verschrobene Querköpfe, daß sie verlangen, alle Umstände bei einem Unternehmen sollen sich nach ihren verrückten Grillen fügen. Der Weise hingegen weiß, daß der Leitstern der Klugheit darin besteht, daß man sich nach der Gelegenheit richte.

289
Nichts setzt den Menschen mehr herab, als wenn er sehen läßt, daß er nur ein Mensch ist

An dem Tage hören sie auf, ihn für göttlich zu halten, an welchem sie ihn allzu menschlich erblicken. Der Leichtsinn ist das größte Hindernis unsers Ansehns. Wie der zurückhaltende Mann für mehr als ein gewöhnlicher Mensch gehalten wird, so der leichtsinnige für weniger als das. Es gibt keinen Fehler, der mehr herabwürdigte, weil der Leichtsinnige das gerade Gegenteil des überlegten, gewichtigen Ernstes ist. Ein leichtsinniger Mensch kann nicht von Gehalt sein, zumal wenn er alt ist und die Jahre ihn zur Überlegung verpflichten. Obgleich dieser Makel an so vielen haftet, so ist er nichts destoweniger ganz besonders herabwürdigend.

290
Es ist ein Glück, zur Hochachtung auch die Liebe zu besitzen

Gemeiniglich darf man, um sich die Achtung zu erhalten, nicht sehr geliebt sein. Die Liebe ist verwegener als der Haß. Zuneigung und Verehrung lassen sich nicht wohl vereinen. Zwar soll man nicht sehr gefürchtet sein, aber auch nicht sehr geliebt. Liebe bringt Vertraulichkeit mit sich, und mit jedem Schritt, den diese vorwärts macht, geht die Hochachtung einen zurück. Man sei eher im Besitz einer verehrenden als einer hingebenden Liebe: so ist sie ganzen Leuten angemessen.

291
Zu prüfen verstehen

Die Aufmerksamkeit des Klugen wetteifere mit der Zurückhaltung des Vorsichtigen. Viel eigener Verstand ist erforderlich, um einen fremden auszumessen. Es ist wichtiger, die Gemütsarten und Eigenschaften der Menschen als die der Kräuter und Steine zu kennen. Solches ist eine der scharfsinnigsten Beschäftigungen im Leben. Am Klange kennt man die Metalle, an der Rede die Menschen. Worte geben Anzeichen der Rechtlichkeit, viel mehr aber die Taten. Hier nun bedarf es der außerordentlichsten Vorsicht, der tiefen Beobachtung, der feinen Auffassung und des richtigen Urteiles.

292
Die persönlichen Eigenschaften müssen die Obliegenheiten des Amtes übersteigen,

nicht umgekehrt. So hoch auch ein Posten sein mag, stets muß die Person sich ihm überlegen zeigen. Ein überlegener Geist breitet sich immer mehr aus und tritt mehr und mehr hervor in seinem Amte. Hingegen wird der Engherzige bald seine Blöße zeigen und am Ende an Verpflichtungen und Ansehen bankrott werden. Der große Augustus setzte seine Ehre darein, als Mensch größer denn als Fürst zu sein. Hier kommt nun ein hoher Sinn zustatten, auch wohlüberlegtes Selbstvertrauen trägt viel dazu bei.

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Von der Reife

Sie leuchtet aus dem Äußern hervor, noch mehr aus der Sitte. Materielle Gewichtigkeit macht das Gold, moralische den Mann wertvoll. Die Reife verbreitet über alle Fähigkeiten einen gewissen Anstand und erregt Hochachtung. Die Gesetztheit des Menschen ist die Fassade seiner Seele: sie besteht nicht in der Unbeweglichkeit des Dummen, wie es der Leichtsinn haben möchte, sondern in einer sehr ruhigen Autorität. Ihre Reden sind Sentenzen, ihr Wirken gelingende Taten. Sie erfordert einen sehr vollendeten Mann: denn jeder ist so weit ein ganzer Mann, als er Reife hat. Indem er aufhörte, ein Kind zu sein, fing er an, Ernst und Autorität zu erhalten.

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Sich in seinen Meinungen mäßigen

Jeder faßt seine Ansichten nach seinem Interesse und glaubt einen Überfluß an Gründen für dieselben zu haben. In den meisten muß das Urteil der Neigung den Platz einräumen. Nun trifft es sich leicht, daß zwei miteinander gradezu widersprechende Meinungen sich begegnen, und jeder glaubt die Vernunft auf seiner Seite zu haben, wiewohl diese nie ein doppeltes Antlitz trug. Bei einem so schwierigen Punkt gehe der Kluge mit Überlegung zu Werke; dann wird das Mißtrauen gegen sich selbst sein Urteil über das Benehmen des Gegners berichtigen. Er stelle sich auch einmal auf die andere Seite und untersuche von da aus die Gründe des anderen, dann wird er nicht mit so starker Verblendung jenen verurteilen und sich rechtfertigen .

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Nicht wirksam scheinen, sondern sein

Viele geben sich den Anschein, wichtige Geschäfte zu treiben, ohne den mindesten Grund; aus allem machen sie auf die albernste Weise ein Geheimnis. Sie sind Chamäleone des Beifalls und für alle ein unerschöpflicher Gegenstand des Spottes. Eitelkeit ist überall widerlich, hier aber auch lächerlich. Diese Ameisen der Ehre betteln sich Großtaten zusammen. Man soll seine größten Vorzüge am wenigsten affektieren; man begnüge sich mit dem Tun und überlasse anderen das Reden darüber. Man gebe seine Taten hin, aber man verkaufe sie nicht. Auch miete man sich nicht goldene Federn, die Unflat schreiben. Man strebe lieber darnach, ein Held zu sein, als es zu scheinen.

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Ein Mann von erhabenen Eigenschaften:

Eigenschaften ersten Ranges machen Männer ersten Ranges, und eine einzige derselben gilt mehr als eine große Anzahl mittelmäßiger. Es gab einen Mann, dem es gefiel, alle seine Sachen, sogar den gewöhnlichen Hausrat, besonders groß zu haben; um wieviel mehr muß ein großer Mann dafür sorgen, daß alle Eigenschaften seines Geistes groß seien. In Gott ist alles unendlich und unermeßlich; so muß auch in einem Helden alles groß und majestätisch sein, dergestalt, daß alle seine Taten, auch seine Reden, mit einer großartigen Erhabenheit bekleidet auftreten.

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Stets handeln, als würde man gesehen

Der ist ein umsichtiger Mann, welcher sieht, daß man ihn sieht oder doch sehen wird. Er weiß, daß die Wände hören und daß schlechte Handlungen zu bersten drohen, um herauszukommen. Auch allein handelt er wie unter den Augen der ganzen Welt. Denn da er weiß, daß man einst ohnehin alles wissen wird, so betrachtet er als schon gegenwärtige Zeugen die, welche es durch die Kunde späterhin ohnedies werden müssen. Jener, welcher wünschte, daß die ganze Welt ihn stets sehen möge, war nicht darüber besorgt, daß man ihn in seinem Hause aus der Nähe beobachten könnte.

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Drei Dinge machen einen Wundermann

und sind die höchste Gabe der göttlichen Freigebigkeit: ein fruchtbares Genie, ein tiefer Verstand und ein zugleich erhabener und angenehmer Geschmack. Richtig zu fassen ist ein großer Vorzug, aber ein noch größerer, richtig zu denken und die Einsicht des Guten zu haben. Der Verstand soll nicht im Rückgrat sitzen: da wäre er mehr mühselig als scharf. Richtig zu denken ist die Frucht der vernünftigen Natur. Mit zwanzig Jahren herrscht der Wille vor, mit dreißig das Genie, mit vierzig das Urteil. Es gibt Köpfe, die gleichsam Licht ausströmen wie die Augen des Luchses, indem sie, wo die größte Dunkelheit ist, am richtigsten erkennen. Andere sind für die Gelegenheit gemacht, da sie stets auf das fallen, was am meisten zum gegenwärtigen Zweck dient: es bietet sich ihnen Vieles und Gutes dar: eine glückliche Fruchtbarkeit! Inzwischen würzt ein guter Geschmack das ganze Leben.

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Hunger zurücklassen:

selbst den Nektarbecher muß man den Lippen entreißen. Das Begehren ist das Maß der Wertschätzung. Sogar bei dem leiblichen Durst ist es eine Feinheit, ihn zu beschwichtigen, aber nicht ganz zu löschen. Das Gute, wenn wenig, ist doppelt gut. Sättigung mit dem, was gefällt, ist gefährlich und kann der Vortrefflichkeit Geringschätzung zuziehn. Die Hauptregel zu gefallen ist, daß man den Appetit noch durch den Hunger, mit welchem man ihn verließ, gereizt vorfinde. Muß man Unzufriedenheit erregen, so sei es lieber durch die Ungeduld des Begehrens als durch den Überdruß des Genusses. Das mühsam erlangte Glück wird doppelt genossen.

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Mit einem Wort - ein Heiliger sein!

Damit ist alles auf einmal gesagt. Die Tugend ist das gemeinsame Band aller Vollkommenheiten und der Mittelpunkt aller Glückseligkeit. Sie macht einen Mann vernünftig, umsichtig, klug, verständig, weise, tapfer, überlegt, redlich, glücklich, beifällig, wahrhaft und zu einem Helden in jedem Betracht. Drei Dinge machen glücklich: Heiterkeit, Gesundheit und Weisheit. Die Tugend ist die Sonne des Mikrokosmos und ihre Hemisphäre das gute Gewissen. Sie ist schön, daß sie Gunst findet vor Gott und den Menschen. Nichts ist liebenswürdiger als nur die Tugend, und nichts verabscheuungswürdiger als nur das Laster. Die Tugend allein ist die Sache des Ernstes, alles andere ist Scherz. Fähigkeit und Größe soll man nach der Tugend messen und nicht nach den Umständen des Glücks. Sie allein ist sich selbst genug: sie macht den Menschen im Leben liebenswert und im Tode denkwürdig.