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Freimaurerei, Freimaurerlogen, Freimaurer






Vergleichendes Handbuch der Symbolik der Freimaurerei
mit besonderer Rücksicht auf die Mythologieen und Mysterien des Alterthums
von Dr. Jos. Schauberg, Zürich 1861

B a n d I. - Kapitel XXVIII.



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Ueber das Symbol des maurerischen Schrittes.

Der Lehrlings-, der Gesellen- und Meisterschritt, womit der Lehrling, der Geselle und der Meister sich dem




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Altare nähern , symbolisch 3, 5 oder 7 Stufen des Altares ersteigen, und der Schritt, mit dem die Maurer aller Grade in die Loge eintreten sollen, stimmen insofern mit einander überein, dass sie alle in der geraden Linie, offenbar nach dem Winkelmasse oder dem rechtwinkeligen Dreiecke, welches der Ausschreitende zuerst bildet, erfolgen. 1) Der Schritt und Weg des Maurers soll sonach ein gerader, ein nicht nach Rechts und Links oder vom rechten Wege abschweifender und ablenkender, ein abgemessener und geordneter sein. Der maurerische Schritt hat, auf diese Weise aufgefasst, eine unendliche tiefe Bedeutung und schliesst sich innig an das Halszeichen, an die Bewegung der rechten Hand und des rechten Armes an, denn Hand und Fuss soll der Maurer im rechten Winkel, im Winkelmasse bewegen. Der cubische Stein, auf welchem ein Winkelmass mit den Worten liegt: "Dirigit obliqua," und die Gesellenloge nach der gewöhnlichen maurerischen Erklärung bezeichnen soll, ist ein durchgreifendes Symbol des von dem Maurer zu wählenden und zu führenden Lebens und Strebens, enthält für den Maurer eine allgemeine und unbedingte Lebensvorschrift, indem das Winkelmass sein ganzes sittliches und geistiges Leben, namentlich aber auch die Bewegung seiner Hände und Füsse beherrschen und regieren, dirigiren soll, um in allen Beziehungen die Abweichungen, Fehler und Verirrungen (obliqua) zu vermeiden. Da das Halszeichen mit der rechten Hand gegeben, - das rechtwinkelige Dreieck oder das Winkelmass mit der rechten Hand gebildet wird, wie es kaum anders sein könnte, ist es auch nicht dem geringsten Zweifel unterworfen, dass ebenso beim Schritt das rechtwinkelige Dreieck, das Winkelmass mit dem rechten Fusse voran gebildet werden müsse, so dass also der Aussehreitende sinn- und bedeutungsvoll mit dem rechten Fusse. beginnt und bei seinen zu vollbringenden 3, 5 oder 7 Schritten auch stets mit dem rechten Fusse endet, auf den zu ersteigenden Stufen des Altares zuerst und zuletzt ankommt, wie dieses auch wirklich die Symbolik der Alten ausdrück-




1) Vergl. darüber auch Polak, die Tapis, S. 68 ff., wo das Wahre mit dem Falschen bunt unter einander gemengt erscheint.



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lich vorschrieb, dass man die Altäre der Götter mit dem rechten Fusse voran, betreten solle. Virgil sagt daher: dexter adi, von der rechten Seite nahe, indem diese bei Griechen und Römern als die günstige und glückbringende galt. Der bekräftigende Handschlag wird ebenso überall, besonders bei den Griechen, Römern und Germanen 1) mit der rechten Hand ertheilt, und im Griechischen heisst daher die rechte Hand, der Handschlag, das Versprechen und der Vertrag., - selbst Stärke und Hülfe bei dem Krieger, weil auch diese auf dem Gebrauche der rechten Hand und des rechten Armes beruhte. Ganz dieselben Bedeutungen hat auch im Lateinischen dextra. Das Deutsche recht hängt nach Schmeller wohl genetisch mit rectus zusammen. - Im Mittelhochdeutschen heisst rihten, richten, in eine gerade Linie bringen (dirigere), nach dem Richtmasse aufstellen, abthun, zu Ende bringen, schlichten, gütlich beilegen, ausführen, urtheilen (judicare), rechtsprechen u. s. w. Vgl. Ziemann, mittelhochdeutsches Wörterbuch, unter: rihten und rihte, und Schmeller, bayerisches Wörterbuch, Thl. III. S. 15 unter: gerechen, und S. 20 unter: recht. Die rihte, ahd. rihti, bezeichnet die gerade Richtung, die Richtschnur, die Geradheit, die Ordnung (directio, rectitudo, trames, regula). Nach Wackernagel, altdeutsches Wörterbuch, bedeutet rëht, recht, in gerader Linie, moral, gut, gerecht, -- jurist. gesetzlich, recht, - wahr u. s. f. Der Anfang und der Schluss des Weges, der Reise der Maurer mit dem rechten Fusse geben zugleich die Bürgschaft, den Beweis für den zurückgelegten rechten und heiligen Weg nach Osten zwischen der Mittags- und Mitternachtsseite mit dem Ausgange auf der rechten Seite von Abend aus. Der maurerische Weg, die maurerischen Schritte sind daher zugleich und nothwendig ein Wandeln nach dem Osten, ein Verlangen nach Gott und nach dem ewigen Lichte, welche eben im Osten gedacht und geglaubt werden.

In dem dreifachen, fünffachen und siebenfachen Schritte des Lehrlings, des Gesellen und des Meisters sind zugleich seine Vorbereitungs- und Bildungsjahre, seine Altersjahre




1) Grimm, Rechtsalterthümer, S. 138.



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gegeben und ausgedrückt, welche er zurücklegen und erreicht haben muss, bevor er Geselle und Meister werden und sein darf. Hiermit stehen die Steinmetzordnungen in vollkommener Uebereinstimmung, indem der deutsche Steinmetzlehrling fünf Jahre lernen und zwei Jahre als Geselle wandern musste, bevor er Meister werden und selbst einen Bau übernehmen konnte; in Niederdeutschland lernten die Steinmetzen vier Jahre und mussten drei Jahre als Gesellen wandern; der englische Steinmetz muss sieben Jahre lernen und kann dann als Meister auftreten und sich niederlassen. 1) Die die übrigen Zahlen bestimmende Zahl, die Grundzahl ist hier die Siebenzahl als die vollendende, als die den vollendeten Meister schaffende, als die Meisterzahl, während die Fünfzahl, die unvollkommenere, die noch nicht vollkommene und vollendete ist, gerade wie sieben Mitglieder eine gerechte und vollkommene Loge, fünf aber nur eine unvollkommene Loge ausmachen und bilden. Die Siebenzahl ist nun die planetarische, die Zahl der sieben Planeten und Planetensphären, und da die Maurer Lichtsuchende, Wanderer nach dem ewigen Osten und Lichte sind, ist urprünglich die Siebenzahl des Schrittes und des Alters gewiss nur das Symbol der sieben Planetensphären, welche der Mensch, der im Tode vollendete Meister durchwandern muss, um nach den Vorstellungen des Alterthums zu Gott und in den Himmel zu gelangen. Alle diese Zahlen sind ursprünglich heilige oder göttliche Zahlen, haben einen religiösen Ursprung und eine religiöse Bedeutung, weshalb die letztern aufgesucht und aufgefunden werden müssen, wenn anders die Zahlen begriffene sein sollen. Hieran schliesst es sich, dass der maurerische Altar, der symbolische Thron Gottes sieben Stufen, abgetheilt in 3, 5 und 7 Stufen, hat; 2) in eben diesen 2 oder 3 Stufenabtheilungen ersteigen der Geselle und der Meister symbolisch die Treppe des Altars. Der Meister vom Stuhl mit dem Winkelmasse geschmückt und bei dem




1) Fallou, die Mysterien der Freimaurer, S 40 und S. 261, Nr. 2; Winzer, die deutschen Baubruderschaften des Mittelalters, Giessen 1859, S. 61, 63 und S. 98.
2) Polak, Geschichte der Urreligion, Amsterdam 1855, S. 6 u. 7.



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Altare sitzend, ist das Symbol des über sieben Stufen, über den sieben Planetensphären thronenden und richtenden Gottes. Zu dem himmlischen Meister mit dem Winkelmasse, zu dem himmlischen, gerechten und gnädigen Richter will der Maurer eingehen durch das Winkelmass auf Erden, durch den geraden Weg, durch das Mass und die Gerechtigkeit seiner Handlungen. Der gerade Weg der Menschen, ihr Leben nach dem Winkelmasse, ihr Erringen und Verdienen des ewigen Ostens ist die eigentliche und einzige Linie der Heiligkeit .(Iinea sanctitatis); nicht die Logen sollen die heilige Linie einhalten, sondern vielmehr die darin befindlichen Maurer, sie sollen sich durch reine Gedanken, Worte und Werke heiligen, sie sollen gleichsam ein Volk von Lichtpriestern sein, wie Moses auch zu den Juden gesagt hatte: "Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern, ein heiliges Volk sein." Nur der Weg nach dem rechten Winkel ist der rechte und der heilige, der göttliche.

Das Symbol des Schrittes und Weges nach dem Winkelmasse, im rechten Winkel bei den Maurern ist aller Wahrscheinlichkeit nach ägyptischen Ursprungs, Tradition der ägyptischen Bauleute, denn zunächst ist es ein architektonisches Symbol und die Aegypter sind urkundlich die ältesten Architekten auf Erden, so dass schon deshalb am ersten das Symbol von ihnen ausgegangen sein könnte. Sodann aber ist durch noch erhaltene sehr alte Steindenkmale Aegyptens erwiesen, dass das maurerische Halszeichen ein Gebrauch, ein Symbol der ägyptischen Priester gewesen sei, so dass das dem Handzeichen in allen Theilen ganz gleichstehende, adäquate und nicht blos verwandte Fusszeichen gleichfalls den ägyptischen Priestern zugeschrieben werden darf und muss. Zur Uebertragung des ägyptischen Hand- und Fusszeichens nach Europa, nach dem Abendlande, mögen besonders auch die Pythagoreer, Essäer und Therapeuten mitgewirkt haben, indem wir wenigstens bestimmt wissen, dass die Essäer das Handzeichen gehabt und gebraucht haben. Durch die ägyptischen Mönche und durch die mittelalterlichen Baubrüder, besonders die Benediktiner und Cisterzienser, sind sodann alle diese architektonischen Symbole mit der Baukunst




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selbst besonders den französischen und deutschen Bauleuten und Steinmetzen überliefert worden. 1)

Was den Maurerlehrling der Schritt im rechten Winkel lehrt, spricht Horaz in den schönen Worten aus: "Est modus in rebus, sunt certi denique fines, quos ultra citraque nequit consistere rectum; es gibt ein Mass in allen Dingen, es gibt bestimmte Grenzen, von welchen entfernt oder über welche hinaus das Rechte nicht bestehen kann." - Verwandt hiemit ist der Ausspruch in dem Prediger Salomo 8, 6: "Denn alle Dinge wollen eine gelegene Zeit und Weise haben," d. h. die Weisheit besteht darin, in jeder Sache das rechte Mass und die rechte Zeit zu treffen. Das maurerische Wandeln im rechten Winkel, nach dem Winkelmasse, ist dem chinesischen Confucius, Konfu-tse, welcher aus königlichem Geschlechte stammte und nach Wernike, Geschichte des Alterthums, 2te Auflage, Berlin 1858, S. 15 von 551-478 v. Chr. lebte, - von Hegel, Geschichte der Philosophie, Bd. I., S. 138 (Berlin 1840), aber einfach 500 Jahre v. Chr. gesetzt wird, das Einhalten der festen und rechten Mitte. Der Geist des Himmels, der der Erde und der des Menschen bilden die göttliche Dreiheit der Chinesen. Himmel und Erde werden von Confucius Vater und Mutter aller Dinge genannt; in der Mitte aber zwischen Himmel und Erde, oder als Mittelpunkt des Lebens Beider, steht der Geist des Menschengeschlechts, oder das Urbild der Menschheit, welchem der einzelne Mensch in seinem Leben auf Erden nachzustreben habe, um den weisen und heiligen Fürsten der Vorzeit und jenem grossen Heiligen, der am Ende der Tage erwartet wird, ähnlich zu werden. In dem Dschung-yung wird der sittliche und heilige Mensch in den Mittelpunkt des Lebens versetzt, als in seiner errungenen Weisheit, in seiner selbstbewussten Tugend zum Träger des Weltalls verklärt. Der Himmel, heisst es, bestimmt die eigenthümliche Wesenheit jedes Besonderen; aus Dem, was derselben entspricht und damit übereinstimmt, ergibt sich das Gesetz und aus der Feststellung des Gesetzes die Lehre. Das Gesetz, worauf die Lehre beruht, stammt




1) Vergl. auch Krause, Kunsturkunden, I. 2. S. 420 ff.



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somit von dem Himmel selbst, inwiefern nämlich das Gesetz der Natur der Dinge entspricht, und die Natur der Dinge durch den Himmel bestimmt ist. Das Gesetz führt zu der Lehre oder zur errungenen Weisheit, und wer diese gewonnen hat, harrt standhaft aus in der rechten Mitte. Der Zustand, in welchem die Seele, ehe die Leidenschaften in ihr erwacht sind, sich befindet, ist der der Mitte; nachdem sie aber erwacht sind und nachdem sie das rechte Mass gewonnen haben, tritt das Gleichgewicht ein. Die Mitte bildet im Weltall den Halt; das Gleichgewicht ist die Bahn für Alle. Wenn die Mitte und das Gleichgewicht in ihrer Vollkommenheit sich darstellen, dann befindet sich Himmel und Erde in Ruhe, und alle Dinge reifen ihrer Blüthe entgegen. Aufrecht erhalten im Leben der Menschen, wie im Leben des Weltalls, wird das Gleichgewicht durch die sittliche Kraft des Menschen, der als Weiser oder Heiliger in seiner selbsterrungenen Vollkommenheit standhaft ausharrt in der rechten Mitte, und so als werkthätig ordnendes Glied (als cubischer Stein, als Theil des maurerischen Mosaikbodens 1) in Gemeinschaft mit Himmel und Erde Theil nimmt am Schaffen der Dinge, sie in ihrem Dasein erhält und beschützt, wie er auf Erreichung des Zustandes der Vollkommenheit überall auch ausser sich hinwirkt. Gestört aber wird das Gleichgewicht im Leben des Weltalls durch die Sünde des Menschen und durch sein Abweichen von der rechten Mitte. 2)

Aehnlich wie die Lehre der Sinesen war auch diejenige der Aegypter. "Die höchste göttliche Potenz," sagt Menzel im Odin S. 110, "für die Aegypter war die ewig gleiche Ordnung im Lauf der Gestirne, im Lauf des Nils, in dem stets sich wiederholenden Wechsel der Jahreszeiten, der Saat und der Erndte, im staatlichen und Privatleben. Von Geburt an gehört jeder Mensch




1) Polak, die Tapis, S. 129 ff.; Lenning, Encyklopädie, unter Pflaster; Krause, Kunsturkunden, 1. 2. S. 207 ff.
2) Stuhr, die chinesische Reichsreligion, Berlin 1835. S. 5 ff. Nur der Merkwürdigkeit wegen mag man auch nachlesen, was Gladisch, das Mysterium der ägyptischen Pyramiden und Obelisken, Halle 1846, S. 5 ff., über die chinesisch-pythagoreische Zahlen-, Mass-, und Musikphilosophie sagt.



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einer Kaste, einem Fleck Erde; sein ganzes Leben ist ihm vorgeschrieben, wie dem Thiere." Der rechtwinkelige Schritt, das Winkelmass, Ordnung und Regelmässigkeit sind der Grundzug, das beherrschende und leitende Gesetz des ganzen ägyptischen Lebens, wie dieses schon der Nil mit seinen regelmässigen und für das ägyptische Land so wichtigen, ja dessen Lebensbedingung bildenden Ueberschwemmungen gegeben hatte. Der Lauf des heiligen Niles oder Flusses im Lande Aegypten von Süden nach Norden, zu welchen selbst Osiris und Isis umgestaltet wurden, bestimmte vielfach auch die Richtung der heiligen Gebäude in Aegypten, indem dieselben dem Laufe des Niles entsprechend aufgeführt wurden. Das über Aegypten sich befruchtend ergiessende Nilwasser war gleichsam der befruchtende Sonnenmorgen.

Ebenso gehört hierher die Aufschrift an der Wand des Tempels des Licht- und Weisheits-Gottes Apollo zu Delphi: "Erkenne dich selbst, Nichts allzusehr." Wenn Br. Goethe sagt, dass die Arbeit den Gesellen mache, ist darunter natürlich zu verstehen , dass der tüchtige, wahre Geselle sich durch seine Arbeit, durch den unablässigen Gebrauch des Winkelmasses bethätigen und bewähren müsse. Daher sagt derselbe Goethe:

"Thu' nur das Rechte in deinen Sachen,
Das Andere wird sich von selber machen."

und:

"Zwischen heut und morgen,
Liegt eine lange Frist,
Lerne schnell besorgen,
Da du noch munter bist."

sowie:

"Noch ist es Tag, da rühre sich der Mann,
Die Nacht tritt ein, wo Niemand wirken kann."

Nach Leo, die malbergische Glosse, Halle 1842, S. 231 ist der Stamm von drao oder draoi, im plur. draoithe oder in älterer Schreibung druidthe, daher im Deutschen der Druide, dró, d. i. das Lineal, die Messschnur, und die Druiden, die Weisen, die Priester sind also ursprünglich nur die Messenden, das Mass selbst.




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Auf einer bei Zwickau im vorigen Jahrhundert aufgefundenen und in griechischer Sprache verfassten druidischen Tafel, mit der Aufschrift: , stand:

Verehret den Gott Apollo;
Haltet an den väterlichen Gesetzen;
Seid verschwiegen;
Was euch zu thun befohlen, das thut mit Fleiss. 1)

Es muss wohl kaum berührt werden, dass das maurerische Gehen und Wandern im rechten Winkel zunächst blos eine symbolische Bedeutung habe und die Geradheit und Reinheit, Wahrheit und Gerechtigkeit der menschlichen Gedanken, Worte und Werke bezeichne. Auch das Winkelmass, wodurch des Menschen Gedanken, Worte und Werke gerade und rein, wahr und gerecht gemacht, womit dieselben gemessen werden sollen, ist wieder nur ein Symbol, so dass man billig verlangen darf, das eigentlich Gemeinte, jeder symbolischen Hülle entkleidet, zu sehen und zu hören - zu wissen, welches denn das im menschlichen Leben und von den Menschen, von dem Maurergesellen wirklich anzuwendende Winkelmass, nach dem griechischen Ausdrucke sei. Dieses Winkelmass ist nun die menschliche Vernunft und , denn vermöge der ihm als Vernunftwesen verliehenen Vernunft, göttlichen Gabe und Kraft, soll der Mensch vernünftig, göttlich, gottähnlich fühlen, denken und handeln. Der Mensch besitzt als das einzige und zugleich höchste Winkelmass, als den prüfenden Massstab, , seines Fühlens, Denkens und Handelns die Vernunft; die Pythagoräer, zumal Telauges, der Sohn des Pythagoras, und Philolaos, sowie Archytas, Plato und Speusippos, hatten zu diesem oder die Zahl und Zahlen erheben wollen, 2) bis diese pythagoreische Zahlenlehre, Zahlentheorie von Aristoteles, dem grösseren und glücklichen Nachfolger und Erben der Pythagoräer, beseitigt und durch eine streng wissenschaftliche




1) Ernesti, Versuch eines geographisch-historischen Wörterbuchs, Nürnberg 1792, S. 61.
2) Röth, a. a. O., Il. S. 903 u. 904.



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Denklehre oder Logik und Erkenntnisstheorie oder Metaphysik ersetzt wurde. Wie aber zufolge Plato alle irdischen Dinge, entsprechend den göttlichen Urbildern oder Ideen und Vorbildern nach Zahl, Mass und Gewicht gebildet sind und dadurch zu Abbildern und Abdrücken der göttlichen Ideen werden: 1) ähnlich sollen gemäss dem Symbole des maurerischen Schrittes alle Handlungen, - das ganze Denken, Wollen und Thun des Maurers nach dem Winkelmasse, nach der Vernunft, nach dem göttlichen Gesetze gestaltet und von ihnen durchdrungen und erfüllt sein, damit das irdische Leben des Menschen der Anfang, das Vorbild seines künftigen himmlischen, - ein vernünftiges und rechtes, ein gottähnliches und reines sei.

In den in unserer Sprache noch heute allgemein gebräuchlichen bildlichen Ausdrücken: den rechten Weg wählen, abweichen vom rechten Wege, - auf unrechten, ungeraden und krummen Wegen wandeln, - der schmale Pfad der Gerechtigkeit, - den Weg des Herrn ziehen u. s. w. darf wohl ein in das Volk übergegangener Sprachgebrauch der alten Eingeweihten, der alten Mysterien gefunden werden. Trägt doch die allgemein verehrte Nemesis, gleich dem Meister vom Stuhl, d. h. gleich dem allmächtigen Baumeister der Maurer, ein Winkelmass, weshalb ein unsträfliches, ein gottgefälliges Handeln und Wandeln nur dasjenige nach dem Winkelmasse, ein rechtwinkeliges, ein rechtes sein konnte. Schon in Psalm 53, 4 wird geklagt:

Doch Alle waren sie abgewichen, zusammt entartet,
Da war Keiner, der Gutes that, auch nicht Einer.

Die Anhänger von Christus heissen im neuen Testamente zuweilen Diejenigen, welche auf dem rechten Wege sind, .

Das Recht, jus, und der Eid, jusjurandum, tragen bei den Römern von dem höchsten Gotte Jupiter selbst den Namen. Denn jus, in alter Wortform jous, ist nichts Anderes als Jovis, jusjurandum aber, wie die Alten selbst




1) Röth, a. a. O., II. S. 911 ff.



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bekunden, gleich Jovisjurandum. 1) Das Recht und das Rechte, jus et justum, sowie die Gerechtigkeit, justitia, und der Eid, jusjurandum, sind das Göttliche, Heilige, das Reine, das Licht. Der uralte heiligste Schwur der Römer war daher bei Jupiter Stein, per Jovem lapidem, bei dem Blitze Jupiters; der Schwur per Jovem, oder bei den Griechen beim Zeus Horkios, 2) war ein Schwur beim göttlichen Lichte und Feuer, wie auch bei dem Herdfeuer (der Hestia, Vesta) und besonders Bündnisse und Vorträge über den brennenden Opfern geschworen wurden. 3) Deshalb trug die Fides, die römische Göttin der Treue und Wahrhaftigkeit, ein weisses Gewand. 4) Es ist eine verfehlte Erklärung des weissen Gewandes der Fides, wenn Preller, römische Mythologie S. 226, sagt: "denn weiss ist die Farbe des Lichtes und der lautern Treue." Der mythologische Gedanke ist vielmehr, dass das Wort, der Handschlag, die Versprechen und die Verträge der Menschen und der Völker unter den rächenden Schutz Gottes, des ewigen Lichtes gestellt sind, welches jede Treulosigkeit und Falschheit sieht und straft. Das weisse Gewand ist ja das Gewand der Gottheit, d. h. des allsehenden, alldurchdringenden und allwissenden Lichtes, nicht aber des treulosen und schwarzen, lichtscheuen Menschen. Die vorgestreckte Rechte der in einen weissen Schleier gehüllten Fides ist die Hand Gottes, welche über die Hand, das Wort, und die That des Menschen wacht und dessen Auge nicht verdunkelt und verhüllt zu werden vermag; denn sein Schleier ist das Licht, oder vielmehr sein Licht durchdringt leuchtend jeden Schleier, die verborgensten und tiefsten Falten des menschlichen Herzens. Uebrigens ist die römische Fides (privata et publica) die blosse Personification des abstracten Begriffes 5) der von den Menschen und von den Völkern im Privat- und Staatsverkehre




1) Lasaulx, a. a. O., S. 214 u. 15.
2) Lasaulx, a. a. O., S. 183.
3) Lasaijlx, a. a. O., S. 190 u. 116.
4) Lasaulx, a. a. O., S. 230.
5) vergl. Meiners, kurze Geschichte der allegorischen Gottheiten, in dern göttingischen historischen Magazin von Meiners und Spittler, Bd. III., Stück 2, S. 356 ff.



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zu bewährenden Treue und Wahrhaftigkeit, des guten Glaubens (bona fides), deren Verehrung bei den Römern schon von Numa eingeführt und vorgeschrieben worden. Die Fides, der göttliche Wächter und Rächer der Wahrheit, Gerechtigkeit und Treue, - das göttliche Licht und die ewige Gerechtigkeit ist Jupiter, Zeus, Mithra 1) u. s. w. selbst. Dem Lacedämonier Glaukos, welcher um die Zeit Solons lebte und einen falschen Eid zu schwören im Begriffe stand, rief die Pythia, die Stellvertreterin des Apollo, des Sohnes des Zeus, warnend zu:

Glaukos, Epikydes Sohn! für den Augenblick mag es Gewinn sein,
Falsch zu schwören und im Besitz des Geldes zu bleiben.
Immer schwöre, da auch den Rechtlichen holet der Tod einst!
Aber bedenk', es gibt einen dunkelen Rächer des Eides:
Pfeilschnell folgt auf dem Fuss' er dir nach und ruhet nicht eher
Bis er dich und dein ganzes Geschlecht von Grund aus vertilget.
Treu' und rechtlicher Sinn bringt Segen noch spät auf den Enkel. 2)

Der maurerische Schritt ist zugleich die Masslehre, die Metrik, die Lehre von dem in dem menschlichen Leben und Handeln zu beobachtenden Masse und Rhythmus, Gesetze. Was das Mass, sanskr. mâtra, griech. , für die Dicht- und die Tonkunst ist, das ist es auch für das menschliche Handeln und Wandeln, - für die menschliche oder menschlich-göttliche, die einzig königliche Kunst. Mit Hinsicht auf die letztere singt Pindar:

Denn der Tugend Kunst und Fülle stammt von den Göttern allein;
Ob durch Weisheit prang' oder Kraft, ob durch Red' ein Sterblicher.

Der Mensch soll sich rhythmisch, metrisch, mässig benehmen, - er soll seine Schritte und Handlungen abmessen und zählen, - er soll das Mass und den Rhythmus einhalten, - er soll sich mässigen, griech. ; das menschliche Leben soll ein harmonischer Gesang, ein schönes und grosses Gedicht, ein rechtes Werk sein. In diesem Sinne sollen die Maurer Künstler, Sänger und Dichter, Messer und Gerechte werden und sein;




1) Windischmann, Mithra, S. 53.
2) Goette, das delphische Orakel, S. 266; Lasaulx, Studien des klassischen Alterthums, S. 199.



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die Gerechten werden alsdann auch die Berechtigten sein, d. h. die Unsterblichkeit und den Himmel, das Rechte und Ewige erlangen. Der maurerische Schritt, das Hals- und das Fusszeichen, der Hammerschlag und der Handschlag, der Fingerdruck u. s. f. wollen alle nur das Mass, die Metrik, die Kunst lehren; der siebenfache Meisterschritt soll ein Meistergesang nach den sieben Tönen der musikalischen Skala sein.

Wenn der Maurer aufgefordert wird, seine Schritte abzumessen, mitan oder metiri, rnïzen (messen), wird er zugleich aufgefordert, seine Handlungen abzuwägen oder das Winkelmass und die Wage gleichmässig zu gebrauchen, denn das althd. mezan bezeichnet ausdrücklich auch librare, wägen, wie ja häufig die Wage das Mass ordnet, auch das ags. mitta, nhd. Metze für modius steht. 1) Vielleicht darf selbst die Mitte hierher bezogen werden, denn in der Mitte, in der rechten Mitte und auf dem rechten Wege befindet sich, wer seine Schritte abmisst und seine Handlungen abwägt. Der Maurer soll daher ein Messer und Wäger und dadurch zugleich ein in der Mitte Befindlicher, ein Mittlerer, ein Mitter 2) sein. Das lat. medius und modius, das griech. und , und im Deutschen Mitte und Mass, - medius, und Mittlerer wie Mässiger würden sich sonach berühren und die gleiche Bedeutung gewinnen. Benecke, a. a. O., II. S. 199 a, theilt die schöne Stelle aus Pfeiffer, deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, Bd. I., Leipzig 1845, S. 182, 3 mit:

"die tugende geben ein mâze
und ein mittel an gebrûchunge
vorgenelîcher Dinge."

Grimm, a. a. O., spricht die Vermuthung aus, dass in jedem altdeutschen Gerichte ein Schild als Wage aufgehangen gewesen sei, worin gewogen wurde. Die Blei- oder Wasserwage oder das Richtscheit ist auch noch ein maurerisches Symbol und wird selbst als Amtszeichen von dem




1) Graff, althochdeutscher Sprachschatz, Il. S. 891; Grimm in der Vorrede zur Lex Salica von Merkel, Berlin 1850, S. XIII.
2) Benecke, mittelhochdeutsches Wörterbuch, II. S. 197 unter "mitter."



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ersten Vorsteher getragen, aber ungenügend auf die Gleichheit der Abstammung und des Wesens aller Menschen gedeutet. 1) Mit dem Symbole der Bleiwage verwandt ist das Senkblei, das Bleiloth, welches besser auf den lothrechten Wandel und die rechte Mittelstrasse gedeutet wird. 2) Das Senkblei ist das Amtszeichen des zweiten Vorstehers. Das Winkelmass, die Bleiwage und das Senkblei, welche der Meister vom Stuhl, der erste und zweite Vorsteher als das Zeichen ihres Amtes tragen, drücken alle drei denselben Gedanken in einem verschiedenen Bilde aus und sind die dreieinige Lebensvorschrift, welche den Maurer leiten soll. Ueber die Handlungen der Menschen, über der Menschen Einhalten des rechten Schrittes und Masses wacht nach der orphischen Lehre mit scharfem Blicke die Nemesis und ahndet streng jedes Hinausschreiten über die Schranken des Masses. 3)




1) Vergl. Lenning, Encyklopädie, unter Wasserwage.
2) Vergl. Lenning, a. a. O., unter Senkblei
3) Furtwängler, die Idee des Todes, S. 419.